Videos gelöscht TikTok und Bin Ladens Brief
Ein alter Brief Bin Ladens sorgt bei TikTok für Wirbel: Junge Menschen greifen seine Verschwörungsmythen auf und stellen eine Verbindung zum Nahost-Krieg her. Die Plattform reagiert, Politiker sind alarmiert.
Die Videos machen einige Menschen in den USA fassungslos: Junge Amerikanerinnen und Amerikaner um die 20 Jahre alt, die Verständnis für islamistischen Terrorismus äußern und ihre bisherige Meinung über ihr eigenes Land in Frage stellen.
Eine Frau erzählt bei TikTok: "Ich war noch ein kleines Kind am 11. September und dachte immer, die Verantwortlichen sind Terroristen. Aber wer sind die wahren Terroristen? Wer terrorisiert die Menschen?" Auch andere Nutzende der Social-Media-Plattform äußern sich ähnlich: "Die Geschehnisse vom 11. September waren die Konsequenz daraus, dass unsere Regierung andere Länder im Stich gelassen hat", sagt eine Frau in einem Video.
Alter Brief von Bin Laden sorgt für Aufregung
Anlass ist ein über 20 Jahre alter Brief, vermutlich geschrieben von Osama bin Laden. Darin erklärt der inzwischen tote Terroristenführer seine Sicht auf den Nahost-Konflikt, inklusive antisemitischer Verschwörungsmythen. Die USA seien von Juden kontrolliert, Terrorangriffe gegen den Westen Teil eines Befreiungskampfs.
Junge amerikanische TikTok-Nutzer verbreiten die Inhalte und fordern andere auf, den Brief im Internet ebenfalls zu lesen. Wie kann es sein, dass ausgerechnet im Land von 9/11 junge Menschen öffentlich Verständnis für den Drahtzieher der Anschläge äußern?
Auslöser ist die aktuelle Eskalation im Nahost-Konflikt, meint Inga Trauthig, Propagandaforscherin von der Universität von Texas in Austin: "Die Videos sind Teil einer polarisierten amerikanischen Öffentlichkeit, in der es sehr wenig Empathie für die jeweils 'andere Seite' gibt." Der Konflikt werde als Kampf Gut gegen Böse, Unterdrücker gegen Unterdrückte, Kolonialisten gegen Antikolonialisten vereinfacht. "Diese Sicht spiegelt sich dann in den Diskussionen über den Krieg wider", sagt Trauthig. Und zwar nicht nur on- sondern auch offline.
"TikTok verbieten"
Der Hass nimmt zu in den USA - auch bei jungen Menschen. Wegen antisemitischer und antimuslimischer Vorfälle untersucht sogar das US-Bildungsministerium, ob Schulen und Universitäten gegen Antidiskriminierungsregeln verstoßen haben. Einige Politiker machen Propaganda auf Social Media mitverantwortlich für die Entwicklung.
Für sie ist die Empörung über die Bin-Laden-Videos ein Anlass, um vor allem gegen die chinesische Plattform TikTok zu schießen: "Wenn jemand auf TikTok behaupten kann, dass Bin Laden - der Tausende unschuldige Zivilisten getötet hat - im Recht war, ist das ekelerregend", sagte der Republikaner Mike Gallagher beim Sender Fox News. "Es ist ein weiterer Grund, dass wir TikTok verbieten oder zwangsweise verkaufen sollten, bevor eine von der chinesischen kommunistischen Partei kontrollierte App die freie Welt schachmatt setzt, indem sie die dominierende Medienplattform in Amerika in der Hand hat."
Wissenschaftler: Probleme auch bei Instagram und X
Nach Protesten sperrte TikTok die Videos, in denen Bin Laden verharmlost wird - die Kritik an der Plattform aber bleibt. Vor allem, weil sie in den USA immer einflussreicher wird. Eine neue Umfrage hat ergeben: Rund ein Drittel der jungen Amerikanerinnen und Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren informiert sich über aktuelle Nachrichten auf TikTok.
Trotzdem: Nur diese eine Plattform für das Verbreiten von Propaganda verantwortlich zu machen, greife zu kurz, findet Martin Riedl. Der Österreicher ist Assistenzprofessor für Journalismus an der Universität von Tennessee. Auch bei den US-Plattformen wie Instagram oder X (früher Twitter) gebe es Probleme, sagt er. Ihn besorge, dass Plattformen in Krisenzeiten wie jetzt Leute feuern, die für die Moderation von Inhalten zuständig waren.
Riedl findet es deshalb wichtig, zum einen mehr Druck auf die Plattformen auszuüben, schädliche Inhalte zu löschen. Zum anderen brauche es aber auch mehr Medienkompetenz, damit die Nutzerinnen und Nutzer Propaganda auf Social-Media-Plattformen besser erkennen.