Amtsantritt von Lula Zeitenwende in Brasilien?
Die Hoffnung auf eine neue Ära nach vier Jahren Bolsonaro ist groß - auch im Ausland. Doch einfach wird es für Brasiliens neuen Präsidenten Lula nicht. Er erbt ein gespaltenes Land und einen Haushalt in Schieflage.
"Für die Verteidigung der Demokratie", sagt Simone Caoxeiro und packt ein knallrotes T-Shirt mit dem Konterfei Lulas in ihren roten Rollkoffer, dazu ein Regencape und Fahnen der linken PSOL-Partei und der Lehrergewerkschaft, der sie angehört. Am nächsten Morgen geht es los, von Nova Iguacu, einer Stadt nahe Rio de Janeiro, in die Hauptstadt Brasilia. Das sind fast 20 Stunden mit dem Bus, aber das schreckt Simone nicht ab. Sie will dabei sein, wenn Luis Inácio Lula da Silva am Neujahrstag die Präsidentenschärpe umgelegt wird.
"Allen Grund zu feiern"
300.000 Anhänger der linken Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) werden in Brasilia erwartet, dazu wird es Konzerte renommierter Künstler geben, Essensstände, ein riesiges Volksfest. Allein Simones Mann Ulysses Peixoto hat drei Busse nach Brasilia organisiert, alle drei sind ausgebucht. "Wir wollen dorthin, wir wollen feiern, denn dazu haben wir nach diesen vier Jahren allen Grund", sagt Ulysses.
Erleichterung - das habe sie gespürt, als Lula gewählt worden sei, sagt auch Simone. Beide engagieren sich politisch, vertreten linke Ideen. Für das Engagement hätten sie in den vergangenen Jahren immer wieder Drohungen erhalten, erzählt die kräftige Frau mit den langen, schwarzen Locken. Am Wahltag hätten sie als Wahlhelfer gearbeitet und seien dabei von Milizen mit einer Waffe bedroht worden. "Aber wir haben die Regierung von Bolsonaro besiegt. Eine Regierung, die schlimm war, die Gewalt und Hass gestreut hat, die mit Milizen paktiert, den Staat zerstört hat und bewiesen hat, dass es in Brasilien eine extreme Rechte gibt."
Bolsonaro-Anhänger erkennen Wahlergebnis nicht an
Eine Rechte, die in den vergangenen Monaten immer wieder Zweifel am Wahlsystem gestreut hat und nach wie vor von Betrug spricht, auch wenn es dafür keinerlei Beweise gibt.
Seit Wochen kampieren Anhänger des scheidenden Präsidenten Jair Bolsonaro vor militärischen Einrichtungen und fordern ein Eingreifen der Streitkräfte - so auch vor dem imposanten Palacio Duque de Caxias, dem Militärkommando Ost in Rio de Janeiro. Dort steht inzwischen eine Art Zeltstadt, gut ausgestattet mit Chemietoiletten, festen Planen und Gemeinschaftsküche. Etwa 300 Bolsonaro-Anhänger harren dort aus, gekleidet in Grün und Gelb, den Nationalfarben. Sie tragen Schilder mit Aufschriften wie "S.O.S. Streitkräfte" oder "Nationale Intervention jetzt".
"Es ist ein Krieg, um die Sache Gottes zu verteidigen", ruft Schwester Terezinha vom Orden der Missionarinnen der Erlösung. "Nein zu Abtreibungen, ja zur Freiheit! Besiege den Kommunismus und den Teufel, sie müssen zur Hölle!" Schwester Terezinha trägt eine Robe und hält den Rosenkranz in die Kamera.
Lula-Gegner sprechen von "Putsch gegen Demokratie"
Die nationalen Medien verschwiegen die Proteste, beschwert sich Samuel Rezende, Oberleutnant der Reserve und digitaler Influencer. Er trägt ein schwarzes Bolsonaro-T-Shirt und überträgt das Interview mit der ARD zur Kontrolle live per Instagram: "Was hier in Brasilien passiert, ist ein Putschversuch gegen unsere Demokratie", sagt Rezende. "Deswegen sind die Menschen hier auf der Straße, um in geordneter, friedlicher Weise zu demonstrieren, weil sie an die Demokratie glauben." Alle Regierungen Brasiliens, außer die von Bolsonaro, seien korrupt und raubten das Land aus, ist er überzeugt - besonders eben jener Lula da Silva, der niemals habe antreten dürfen.
In der Tat war es in Lulas früherer Regierungsallianz zu massiver Korruption und Bereicherung gekommen, für die er politisch nie Verantwortung übernahm. Auch Lula wurde zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt, die Urteile gegen ihn wurden 2021 vom Obersten Gerichtshof annulliert. Doch seinem Bild als Politiker haben die Skandale geschadet, Millionen Brasilianer sprechen ihm die Legitimität ab. "Meine Flagge wird niemals rot sein", singen sie vor dem Palacio Duque de Caxias.
Bombenfund sorgt für Aufregung
"Es ist sehr besorgniserregend, auch wenn es sich um eine kleine Gruppe handelt", sagt der Sicherheitsexperte Juliano Cortinhas von der nationalen Universität von Brasilia. "Indem das Militär die Proteste gewähren lässt, zeigt es indirekt sein Einverständnis - dabei begehen diese Menschen kriminelle Taten, denn sie propagieren die Auflösung des demokratischen Systems."
Für Aufregung sorgte ein Bombenfund in den Weihnachtstagen. Die brasilianische Polizei nahm einen Mann fest, der versucht haben soll, in Brasilia einen Sprengsatz zu zünden. Bei dem Festgenommenen handelt es sich um einen radikalen Bolsonaro-Anhänger. Er habe den Plan verfolgt, zu Lulas Amtseinführung Chaos zu stiften, heißt es dazu von der Polizei. Samuel Rezende glaubt, es seien "vom System bezahlte Unruhestifter" gewesen, die die Pro-Bolsonaro-Bewegung diffamieren sollten.
Gespaltenes Land, klamme Kassen
Auch wenn Lula direkt nach seinem Wahlsieg Ende Oktober die Einheit aller Brasilianer beschwor, bleibt das Land, das er künftig regiert, tief gespalten. So wird Bolsonaro am Sonntag nicht die Präsidentenschärpe an Lula übergeben. Er hat das Land bereits in Richtung Florida verlassen. Seit Lulas Sieg meidet Bolsonaro die Öffentlichkeit, über Wochen verließ er den Palast nicht. Auch hat er bislang Lulas Sieg nicht anerkannt.
Es werde schwer für Lula, sagt Politikwissenschaftler Mauricio Santoro von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro. Anders als bei seinem ersten Amtsantritt 2003 könne Lula nun weder auf einen Boom der Rohstoffexporte noch auf eine brummende chinesische Wirtschaft setzen. "Heute haben wir ein polarisiertes Land mit einer extremen Rechten, die sowohl auf der Straße als auch im Netz gut organisiert ist. Und wir leben in einer Welt, die noch unter den Folgen der Pandemie leidet, dazu kommt der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf Inflation, Lebensmittelpreise und Öl."
Große Hoffnungen von allen Seiten
Die Herausforderungen sind komplex: Die internationale Gemeinschaft hofft, dass Lula die Abholzung am Amazonas stoppt und eine Führungsrolle beim Kampf gegen den Klimawandel einnimmt - die Menschen im Land fordern von Lula schnelle Lösungen angesichts der gestiegenen Armut, des Hungers und der Ungleichheit. Dabei erbt Lula einen Haushalt in Schieflage und muss mit einem Kongress regieren, in dem rechte und konservative Kräfte die Mehrheit haben.
Lula wird Zugeständnisse machen müssen und Allianzen schmieden. Er hat bereits mit dem Kongress über eine Aussetzung der Schuldenbremse verhandelt, um seine Wahlkampfversprechen aufgestockter Sozialprogramme zu realisieren. Die Finanzmärkte reagierten nervös auf Lulas neue Spendierhosen, die Kurse gaben nach.
Kabinett soll Verbündete zufriedenstellen
Schon die Aufstellung seines Kabinetts glich einem komplizierten Puzzle, dazu gründete Lula 16 neue Ministerien. "Wir versuchen, eine Regierung zu bilden, die so weit wie möglich die politischen Kräfte repräsentiert, die mit uns Wahlkampf geführt haben", sagte Lula. Wichtige Posten wie das Wirtschafts- oder das Sozialministerium gingen an enge Verbündete.
Für Jubel im progressiven Lager sorgte die Ernennung von Anielle Franco, der Schwester der 2018 von Paramilitärs getöteten Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco. Sie wird Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen und erstmals gibt es ein Ministerium für indigene Völker. Lulas Vizepräsident, der konservative Geraldo Alckmin, wird das Industrie- und Handelsressort übernehmen.
Kampf gegen die Zeit
Lula sei einer, der Allianzen schmieden könne und mit Widrigkeiten klarkomme, sagt der Unterstützer Ulysses Peixoto. Ihm mache etwas anderes Sorgen: "Das größte Problem für Lula wird die Zeit sein." Die Menschen wollten einen schnellen Wandel sehen. "Aber die Bolsonaro-Regierung hat so viel zerstört - bei der Sozialpolitik, der Bildung, im Gesundheitswesen, am Amazonas. Es wird Jahre dauern, das wieder aufzubauen, das wird nicht schnell gehen."
Dann setzt sich die Karawane in Bewegung. Sorgen, dass es beim Amtsantritt zu Konflikten mit Bolsonaro-Anhängern kommen könnte, hat er zwar auch - aber davon dürfte man sich nicht einschüchtern lassen, erklärt Ulysses. Die Sicherheitsvorkehrungen vor dem Amtsantritt wurden nun allerdings nochmal hochgefahren.