Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur Chile und seine verschwiegenen Verbrechen
Im Herbst jährt sich die Machtergreifung Pinochets in Chile zum 50. Mal. Doch nach wie vor tut sich das Land schwer, die während der Militärdiktatur verübten Verbrechen aufzuklären.
Pepe Rovano, ein Filmemacher aus der chilenischen Küstenstadt Vina del Mar, heißt eigentlich anders. Den Nachnamen seines Vaters will er ablegen, um sich so weit wie möglich von ihm zu distanzieren.
"Ich bin der Sohn eines Verbrechers - eines Menschen, der für den Tod von sechs Kämpfern der kommunistischen Partei verantwortlich ist", sagt Rovano und fügt hinzu:
Was mich am meisten quält, ist die Frage, was ich von ihm geerbt habe. Den Hang zur Gewalt? Das Patriarchalische? Die Macho-Art? Diese Fragen werden mich für den Rest meines Lebens verfolgen.
Nachkommen fordern Aufklärung vergangener Verbrechen
Pepe ist Teil der Organisation "Historias desobedientes", übersetzt bedeutet das so viel wie "ungehorsame Geschichten". Sie setzt sich zusammen aus Kindern, Enkeln und anderen Angehörigen derer, die zur Zeit der Militärdiktatur gedient haben. Sie fordern eine restlose Aufklärung der von ihren Vätern und Großvätern während der Diktatur begangenen Verbrechen.
"Mein Vater wurde zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt und hat keinen einzigen Tag davon abgesessen, weil er schriftlich begnadigt wurde", erzählt Pepe weiter. Und als sein Vater starb, sei er in Ehren bestattet worden, "mit der chilenischen Flagge, mit der Flagge der Institution".
50 Jahre seit Beginn der Pinochet-Diktatur vergangen
Die Diktatur von Augusto Pinochet begann am 11. September 1973. Der Tag des Militärputsches jährt sich 2023 damit zum 50. Mal - und noch immer geht die Aufarbeitung der Verbrechen nur schleppend voran.
Geschichten wie die des Vaters von Pepe gibt es zuhauf. Pinochet hatte beim Übergang zur Demokratie Straffreiheit für seine Unterstützer ausgehandelt. Und die gilt bis heute.
Die Historikerin María Antonieta Mendizabal von der Universität von Chile hält das für ein fatales Signal: "Wenn die Botschaft lautet: 'Wir garantieren all denen Straffreiheit, die die Menschenrechte verletzten', dann ist das eine furchtbare Botschaft." Mit Sorge schaut Mendizabal nach Brasilien: Ohne ein "tiefgehendes Verständnis von Demokratie als etwas Wichtiges und Notwendiges gibt es Menschen, die zu einem Militärputsch aufrufen - ohne zu wissen, was ein Militärputsch bedeutet oder zu was Militärputsche in unserer Region geführt haben".
Erst im Jahr 1990 gab Pinochet die Regierungsführung ab, im Dezember 2006 starb er. Trotz zahlreicher Klagen im In- und Ausland musste er sich nie vor Gericht verantworten.
Hoffnung in Präsident Boric
Tausende wurden bis zum Ende der Pinochet-Diktatur 1990 gefoltert und ermordet. Mit der Wahl des jungen Präsidenten Gabriel Boric Ende 2021 hofften viele auf eine Wende in der Aufarbeitung der Geschichte. So auch Alicia Lira Matus. Sie ist Vorsitzende der Vereinigung der Angehörigen von politisch Hingerichteten. Ihr Mann und ihr Bruder wurden von der Pinochet-Regierung ermordet.
Die Vereinigung habe zwar Vertrauen in die jetzige Regierung, sagt Matus, "aber wir vertrauen ihr nicht blind". Die Enttäuschung sitze zu tief. Denn bisher hätte keine Regierung wirklichen politischen Willen gezeigt. Noch immer gelten Hunderte Opfer der Militärdiktatur als vermisst, die Suche lahmt auch wegen der mangelnden Kooperationsbereitschaft des Militärs.
"Wahrheit muss in eine Politik umgesetzt werden"
Im September des vergangenen Jahres kündigte die chilenische Justizministerin Marcela Ríos einen nationalen Plan zur Suche nach den Vermissten an. Zwar sei in vielen Gerichtsverfahren zu einzelnen Fällen ermittelt worden, "aber es wurden nie Zusammenhänge zwischen den Fällen untersucht oder mit den Informationen abgeglichen, die von Organisationen gesammelt wurden". Man sei zuversichtlich, voranzukommen, so Ríos. Mit der Zusammenführung der Informationen könne die Regierung auch ohne Unterstützung des Militärs die Suche voranbringen.
Dafür sei es höchste Zeit, meint Historikerin Mendizabal. Aber es müsse noch mehr getan werden, betont sie: "Man muss verstehen, dass es nicht reicht, die Wahrheit zu kennen. Diese Wahrheit muss in eine Politik umgesetzt werden, die die Debatte zum Beispiel in den Bildungsbereich trägt. Nicht nur in die Schulen, auch in die Universitäten, zu den Lehrkräften, zu unseren zukünftigen Anwälten." Nur so könne eine Gesellschaft verhindern, dass die Geschichte sich wiederhole.