Darién-Lücke Wo Hunderttausende durch den Dschungel fliehen
Der Darién-Dschungel gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Dennoch durchqueren ihn jährlich Hunderttausende. Die Anrainer sehen weg, das organisierte Verbrechen verdient mit.
"Guten Morgen!", ruft ein Mann mit Megafon im Camp "Las Tecas" nahe Kolumbiens Karibikküste etwa 2.000 Menschen entgegen, die sich bei Dunkelheit vor einem noch geschlossenen Holzgatter drängen. Die meisten sind schwer bepackt mit Rucksäcken, Wasserkanistern, kleinen Kindern. Sie alle haben dasselbe Ziel: Die USA.
Juan Araya, seine Frau Natalie und drei Söhne fliehen vor Hunger und Hoffnungslosigkeit. "Es geht nicht um uns", sagt der Familienvater, der bereits einmal in den USA war und abgeschoben wurde, "Wir tun das für unsere Kinder!". Neben ihm stehen Ecuadorianer und Haitianer, die vor Bandengewalt fliehen, Angolaner, Kongolesen, sogar Chinesen.
Und Mohammed Azeem aus Afghanistan - er flieht vor der Verfolgung durch die Taliban. Mit 13 Landsleuten ging er zuerst in den Iran, bekam dann ein humanitäres Visum für Brasilien, nun stehen sie im kolumbianischen Dschungel. "Warum helfen die USA uns nicht?", fragen sie sich. Viele von ihnen haben einst für die US-Streitkräfte gearbeitet, werden nun verfolgt. "Wir wollen in ein Land, wo wir sicher sind", sagt Azeem.
Doch um in die USA zu kommen, müssen sie zunächst durch den Dschungel des Darién, der sich wie eine große, grüne Wand vor ihnen erhebt. Eine Leerstelle auf der Landkarte, durch die keine Straße führt - voller Berge, Sümpfe, reißender Flüsse und wilder Tiere. Dennoch hat sich der Darién zur Hauptroute der weltweiten Migration in die USA entwickelt. Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihn vergangenes Jahr durchquert, darunter Zehntausende Kinder. Immer wieder gibt es Krisentreffen zwischen Kolumbien, Panama und den USA, doch wenig passiert.
Das Geschäft mit den Migranten
Solange die Staaten nicht gemeinsam handeln, organisieren andere die Migration: "Das Problem, wie manche es nennen, ist für uns eine Chance", erklärt Darwin Garcia, besser bekannt als Maradona. Er leitet die lokale Stiftung "Neues Licht des Darién", die Migranten für 300 bis 500 USD bis an die Grenzen nach Panama bringt. Ein lohnendes Geschäft, das Fortschitt in eine Region gebracht hat, die seit Jahrzehnten vom Staat vernachlässigt und mit dem massiven Zustrom der Migranten allein gelassen wurde. "Die Migration ist heute unser wichtigstes Business", sagt Garcia, "es gibt nun mehr als 2.000, 3.000 Menschen, die davon heute ihr Leben bestreiten."
Menschenschmuggel, sagen die einen. Dank uns ist die Route sicherer geworden, sagt die Stiftung. Sie verwaltet Camps, Gesundheitsstationen, stellt Guides und Träger. Ein Millionengeschäft, an dem nicht nur lokale Politiker und Unternehmer, sondern auch Kolumbiens mächtigste kriminelle Gruppe mitverdient: Die Gaitanistas, besser bekannt als das Drogenkartell Clan del Golfo, bestätigt Bram Ebus von der International Crisis Group: "Sie sind die kriminelle Regierung der Region." Sie würden die illegalen Gewinne in legalen Unternehmen waschen, korrumpierten die lokale Politik, Teile der Polizei und der Armee, hätten Einfluss auf Gemeinderäte: "Das ist ihr Territorium, hier passiert nichts ohne ihre Erlaubnis oder eine Zahlung an sie."
Vor Sonnenaufgang brechen Tausende Menschen schwerbepackt in den Dschungel auf.
Müll säumt den Weg
Vor Sonnenaufgang setzt sich die Migrantengruppe durch das Holztor in Bewegung. "Ich habe das schon mal gemacht, ich weiß, was ich meinen Kindern zumute", sagt Juan Araya, "Jaguare, Kaimane, es ist anstregend, aber es ist nicht unmöglich". Sie habe Angst, sagt die 15-jährige Daleska. In sozialen Medien habe sie viel Schlimmes über den Dschungel erfahren: "Wir vertrauen auf Gott, was bleibt uns sonst."
Es geht durch reißende Flüsse, über glitschige Felsen, Sümpfe, dann steil bergauf, über matschige Hänge und Bergkämme. Aus der Gruppe wird eine lange Kette, die immer weiter auseinanderdriftet und immer mehr zurücklässt: Decken, kaputtes Schuhwerk, Plastiktüten - längst markieren Unmengen Müll den Weg durch den Urwald. Etwas mehr als einen Tag brauchen die meisten bis zur Grenze mit Panama. Dort drehen die Guides um, die Migranten sind auf sich allein gestellt.
Überfälle und sexualisierte Gewalt
In einem Auffanglager in Lajas Blancas auf der panamaischen Seite der Grenze kommen die an, die es durch den Dschungel geschafft haben. Am Ufer des Flusses Rio Tuqueza legen im Minutentakt motorisierte Kanus an. Pro Boot sind etwa zwölf Migranten in orangefarbenen Westen an Bord. Sie haben Mühe aus den Booten zu steigen. Einige tragen zerschlissene Turnschuhe, andere sind barfuß.
Dhiannyzs Franco hat fünf Tage für den Weg durch den Darién-Dschungel gebraucht. Sie hat mehrere Kilo abgenommen. Sie hat Leichen am Wegesrand gesehen, Menschen die es nicht geschafft haben, davon ist immer wieder zu hören. Wie so viele andere auch, sind Franco und ihre Familie überfallen worden, sagt sie: Es seien indigene Gruppen gewesen - vermummt, mit Jagdgewehren und Pistolen. "Sie wollten unser Geld. Und als wir sagten, dass wir keins hätten, haben sie angefangen, uns zu durchsuchen. Wir mussten uns ausziehen", berichtet sie. Die Banditen hätten angefangen, sie zu berühren und Fotos zu machen. "Wir standen nur in Unterwäsche da, haben unsere Sachen geschnappt und sind den Berg runtergerannt." Eine weitere junge Frau sei sogar mitgenommen worden, ist von vielen Seiten an diesem Tag zu hören.
Mit vielen Migranten an Bord kommt ein Boot am Auffanglager in Panama an.
Keine ärztliche Versorgung
Allein im Januar und Februar dieses Jahres verzeichnete Ärzte ohne Grenzen 328 Berichte über sexualisierte Gewalt, verglichen mit 676 im gesamten letzten Jahr. Doch die humanitäre Hilfsorganisation musste Anfang März ihre medizinische Versorgung aussetzen, weil ihre Genehmigung nicht verlängert wurde. Laut Angaben der Regierung hätten sie verschiedene Auflagen nicht erfüllt.
Damit fällt die dringend notwendige Versorgung von Opfern sexualisierter Gewalt weg: psychologische Hilfe, die Pille danach, Tabletten zur Vermeidung einer HIV-Übertragung, die Behandlung von Verletzungen.
Die Regierung in Panama habe kein Interesse, sich darum zu kümmern, kritisiert Experte Ebus: Es handle sich um strukturelle Gewalt. Doch über indigene Gemeinden auf diese Weise zu sprechen sei sehr heikel, damit gewinne man keinen Popularitätspreis - Anfang Mai wird in Panama gewählt. Zudem machten die Sicherheitskräfte sich mitschuldig wegen unterlassener Hilfeleistung, sie seien teils sogar Mittäter, sagt Ebus.
All das hält die Menschen nicht davon ab, sich weiter auf den Weg zu machen: Die Behörden schätzen, dass dieses Jahr bis zu einer Million Menschen aufbrechen werden.