Von der Polizei aufgegriffene Migranten aus Guatemala sitzen in Three Points (US-Bundesstaat Arizona) auf dem Boden.

Geflüchtete in Guatemala Auf die Abschiebung folgt die Stigmatisierung

Stand: 07.09.2024 09:13 Uhr

Die USA sind für hunderttausende Geflüchtete aus Lateinamerika Ziel aller Hoffnungen. Doch viele werden zurückgeschickt und gelten dann als Gescheiterte. Auch deshalb wollen viele es erneut versuchen

Von Jenny Barke, ARD Mexiko-Stadt

Die Klingel der Geflüchtetenunterkunft "Casa del Migrante" im Norden von Guatemala-Stadt steht selten still. Auch an diesem Nachmittag bilden sich wieder lange Schlangen, ständig bitten Geflüchtete vor der schweren Stahltür um Einlass. 120 Menschen finden pro Nacht im Haus Platz.

Auf einen Ort zum Schlafen für eine Nacht hofft auch eine Gruppe von fünf Venezolanern. Länger bleiben wollen sie nicht, sondern schnell weiter nach Mexiko und schließlich in die USA. Ihre Habseligkeiten haben sie notdürftig in Plastiktüten und verstaubten Rucksäcken verstaut.

Viele hier haben es schon durch den Darién geschafft und dort alles Überflüssige abgeworfen. Das Dschungelgebiet zwischen Kolumbien und Panama ist zur Hauptflüchtlingsroute für Menschen aus der Karibik und Venezuela in Richtung Norden geworden.

Unterwegs drohen nicht nur Naturgewalten wie sengende Hitze und drückende Schwüle, sondern auch Verbrecherbanden, die rauben, vergewaltigen und morden.

Die nächste Etappe: der gefährliche Süden Mexikos

Dennoch halten die Geflüchteten das, was noch vor ihnen liegt, wenn sie Guatemala verlassen haben, für schlimmer. Mexikos Süden sei ein Flaschenhals, in dem Korruption, Übergriffe und Menschenhandel noch einmal zunehmen, erklärt Padre Francisco Pellizzari, der die "Casa del Migrante" leitet:

In Mexiko kontrolliert ein gigantisches Netz aus Kartellen die Flüchtlingsrouten, sie beteiligen sich am Drogenschmuggel und Menschenhandel durch die sogenannten Kojoten, also Menschenschmuggler. Auch wenn es Mexiko anders behauptet, gibt es dort keine staatliche Kontrolle der Kartellmächte mehr.

Mexiko und die USA verschärfen den Kurs

Aber auch vor der staatlichen Seite Mexikos selbst fürchten sich viele Migranten. 2023 hat Mexiko 782.000 aufgegriffen, die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen. Damit hat sich das Land zu einer echten Mauer auf dem Weg in die USA entwickelt.

Im Frühjahr unterzeichnete der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador mit Ecuador, Kolumbien und Venezuela außerdem Rückführungsabkommen. Mexiko sichert den südamerikanischen Staaten zu, die Rückkehr der Migranten in ihre Heimat zu unterstützen.

Auch die USA haben die Einreiseregeln für Migranten mitten im Wahlkampf verschärft. Geflüchtete, die irregulär aus Mexiko in die USA kommen, können seit Juni ohne Bearbeitung ihrer Asylanträge wieder abgeschoben werden, Ausnahmen gibt es kaum noch.

Die Grenze überwunden - und bald abgeschoben

Die Guatemaltekin María, deren Name hier auf ihren Wunsch hin geändert wurde, ist eine der Abgeschobenen. Zwei Monate war sie unterwegs. Ihre fünf Kinder ließ sie bei ihrer Familie im kleinen Heimatdorf im Norden Guatemalas zurück, setzte sich den vielen Risiken auf dem Weg aus, um ihnen eine bessere Zukunft zu bieten. "Hier in Guatemala reicht das, was ich verdiene, nicht aus."

Apathisch erzählt sie in der Migrationsunterkunft "Casa del Migrante" ihre Geschichte. Sie habe sogar die Grenze zur USA überquert, dort Asyl beantragt, doch keine Bleibeperspektive gehabt. Sie sei direkt in einem Auffanglager gelandet.

"Gleich in El Paso steckten sie mich für neun Tage in eine Zelle, es war bitterkalt. Heute früh um drei Uhr ging der Flieger zurück." An diesem Morgen ist sie mit einem Abschiebeflug aus den USA wieder in Guatemala gelandet und in der "Casa del Migrante" untergekommen. Sie wirkt resigniert und depressiv.

Migranten in Tapachula (Mexiko) stehen an, um einen Termin mit US-Behörden zu bekommen, um Asyl zu beantragen

In Tapachula stehen Migranten an, um einen Termin mit US-Behörden zu bekommen. Bei ihnen wollen sie dann Asyl beantragen.

Hochverschuldet - und bereit zum nächsten Versuch

Für die Route habe sie einem "Kojoten", einem Menschenschmuggler, etwa 13.000 Euro gezahlt. Das ist zumal für Guatemalteken sehr viel Geld - durchschnittlich 350 Euro verdienen sie monatlich.

Um die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen, musste sie sich das Geld von ihrem Vater und Bruder leihen, die bereits in den USA leben. Nun hat sie Schulden, die sie nicht zurückzahlen kann. "Ich denke, ich werde es wieder versuchen. Meine Kinder sind mein Motor. Das Leben ist sehr hart."

Rückkehr in ein fremd gewordenes Land

Allein nach Guatemala sind 2023 etwa 80.000 geflüchtete Menschen wieder aus Mexiko und den USA zurückgeführt worden, schätzt das guatemaltekische Migrationsamt. Viele Menschen kämen traumatisiert zurück, sagt Sozialarbeiterin Karina López, die in der "Casa del Migrante" die Abgeschobenen berät und betreut.

"Physisch und psychisch sind sie am Ende. Einige haben Jahre in den USA gelebt, werden von ihren Familien getrennt und kehren in ein Land zurück, das sie kaum kennen." Die Rückkehrer werden im Spanischen auch "Retornados" genannt.

Einer von ihnen ist der 43-jährige Guatemalteke Douglas. Vor 20 Jahren sei er in die USA geflüchtet, weil er in seinem Heimatdorf von einer gewalttätigen Bande bedroht worden sei, berichtet er. Damals sei ihm der Fluchtweg im Vergleich zu heute noch einfach erschienen. Er sei auf einen "El Bestia" genannten Güterzug gesprungen, auf dem Tausende Migranten versuchten, Mexiko zu durchqueren.

Nachdem er auch den Grenzfluss Rio Grande durchschwommen hatte, habe er sich in Texas ein Leben aufgebaut, mit Frau und Tochter. "Ich zahle sogar Steuern in den USA", betont er.

Nie sei er straffällig geworden, er habe sich integriert. Doch eine Aufenthaltserlaubnis fehlt ihm bis heute.

  

Migranten erreichen in Schlauchbooten das mexikanische Ufer des Flusses Suchiate an der Grenze zu Guatemala

Sie haben den Grenzfluss Suchiate überquert und Guatemala hinter sich gelassen. Doch wie es auf der Reise durch Mexiko weitergeht, ist mit vielen Fragezeichen versehen.

Ein Krankenbesuch mit Folgen

Als seine Mutter krank wurde, habe er sie besuchen wollen und verließ freiwillig die USA - ohne zu ahnen, wie schwer ihm die Wiedereinreise ohne Papiere gemacht werden würde. Einmal schon habe er versucht, wieder in die USA zu gelangen - und sei abgeschoben worden.

Nun darf er die Einreise eigentlich erst in fünf Jahren wieder versuchen, zuvor droht ihm die Verhaftung. Doch in Guatemala zu bleiben, sei auch für ihn keine Option. Noch immer würde die kriminelle Bande seiner Jugend in seinem Heimatdorf agieren. Außerdem wolle er um jeden Preis zurück zu seiner Familie, seine Tochter feiert im Oktober ihren sechsten Geburtstag.

Rückkehrer gelten als Gescheiterte

Vielen "Retornados" fehlt im Herkunftsland die Perspektive. Die Probleme, vor denen sie geflüchtet sind, bleiben bestehen. Hinzu kommt die Stigmatisierung: "Retornados" gelten als Gescheiterte. Sie sind verzweifelt, schulden Familie, Bekannten oder Nachbarn geliehenes Geld. Sie werden deshalb oft im Heimatort unter Druck gesetzt.

Die wenigsten wollten bleiben, ein Großteil versuche es wieder und wieder, sagt der guatemaltekische Politologe Luis Mack: "Die Logik ist: Wenn ich hierbleibe, sterbe ich an Hunger. Wenn ich aber gehe, kann ich auf dem Weg sterben oder es aber schaffen. Also gibt es mehr Hoffnung, wenn ich mich auf den Weg mache."

In Guatemala lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, ein Viertel leidet Hunger. Die Hoffnung ist groß, dass die Emigranten Geld in die Heimat schicken. 2023 hat Guatemala 18 Milliarden Euro sogenannter Remesas von denen erhalten, die es geschafft haben und in den USA angekommen sind. 

Jenny Barke, ARD Mexiko-Stadt, tagesschau, 29.08.2024 15:32 Uhr