Kanada Indigene Frauen kämpfen gegen Zwangssterilisierung
Gegen ihren Willen wurden in Kanada seit den 1970er-Jahren tausende indigene Frauen sterilisiert - ein Unrecht, das noch heute geschieht. Nun setzen mehrere Sammelklagen die Regierung unter Druck.
Die Worte des weißen Arztes haben sich Liz, die ihren Namen nicht veröffentlicht sehen will, ins Gedächtnis gebrannt: "Es ist besser, du stimmst der Abtreibung zu. Denn wir werden dir dieses Baby wegnehmen. So oder so." Die damals 17-jährige Kanadierin vom indigenen Volk der Anishinabe wagt es nicht, zu widersprechen.
Verängstigt sitzt sie Ende der 1970er-Jahre im Behandlungsraum der "Indian Clinic" in der Provinz Ontario, einer Klinik, in der Indigene behandelt werden, damit sie an die sogenannte Zivilisation angepasst werden. Sie haben dort ein Urteil über Liz gefällt: Die alleinerziehende Mutter sei nicht in der Lage, für ein weiteres Kind zu sorgen. Der Arzt will ihr deshalb die Eileiter abbinden und sie dadurch sterilisieren.
Liz erinnert sich, wie der Arzt ihr erklärt, was er vorhat und sie unter dem Druck einwilligt, obwohl sie nicht begreift, was mit ihr geschieht. Erst Jahre später wird ihr klar: Sie ist nicht allein. Zehntausende indigene Frauen sind in Kanada seit den 1920er-Jahren im Einklang mit der Eugenik-Gesetzgebung gegen ihren Willen sterilisiert worden.
Und obwohl es diese Gesetze nicht mehr gibt, geschieht es bis heute, weiß Senatorin Yvonne Boyer im Kongress in Ottawa, die selbst der Ethnie der Métis angehört: "Es ist Geschichte und es geschieht weiter."
Als Senatorin kämpft Yvonne Boyer für die Rechte indigener Frauen, die gezwungen wurden, sich sterilisieren zu lassen.
Aus Scham wird Schweigen
Täglich treffen E-Mails und Anrufe bei ihr ein, in denen Frauen ihr von Zwangssterilisationen berichten. Die erste indigene Senatorin für die Provinz Ontario sagt, seit den 1970er-Jahren seien mindestens 12.000 Frauen gegen ihren Willen sterilisiert worden.
"Viele Frauen werden dazu gezwungen, bevor sie überhaupt ein Baby hatten", weiß sie. "Sozialarbeiter und Mediziner entscheiden darüber, ob sie in der Lage sind, für ein Baby zu sorgen oder nicht." Die ehemalige Krankenpflegerin hat jahrelang Erfahrungen mit Rassismus im kanadischen Gesundheitssystem gesammelt. Sie wurde Juristin, um etwas zu ändern, stieß bald erste Ermittlungen an.
Alarmierte UN-Menschenrechtsbeobachter forderten 2018, dass alle Vorwürfe untersucht werden müssen. In den Genfer Konventionen werden Zwangssterilisationen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Als Form des Genozids. Unter Boyers Leitung entsteht 2022 ein Senatsbericht. In der Anhörung sagte auch Liz aus.
Die Aufnahme dröhnt blechern aus ihrem Handy auf dem Küchentisch in ihrem Trailer in "Fort William First Nation". Das Reservat, in dem Liz Gemeindearbeiterin ist, liegt zwischen Wäldern um die Ufer des Superior-Sees in Thunder Bay. Als sie ihre eigene Aussage wieder hört, atmet Liz schwer. Sie hat nicht oft über ihre Geschichte gesprochen. Selbst mit ihrer Tochter Jennifer nicht, die sie mit 16 Jahren bekam und die heute selber Mutter ist. Jennifer ahnte lange nicht, was ihrer Mutter geschah. "Ich habe mich geschämt", sagt Liz.
Liz fällt es noch immer schwer, über ihre Zwangssterilisation zu sprechen.
Eileiter durchtrennt und verödet
In der Senatsanhörung spricht auch Sylvia Tuckanow. Mit 29 Jahren wurde sie gegen ihren Willen sterilisiert. Sie hatte in einer Klinik in Saskatoon einen Sohn geboren. Gleich danach wurde sie für einen Eingriff vorbereitet und auf einer Liege befestigt. "Ich weinte und hatte panische Angst. Ich hyperventilierte in dieser Position: Meinen Kopf tiefer als den Körper", schildert sie. Sylvia roch verbranntes Fleisch. Dann hörte sie den Arzt sagen: "So: abgeschnürt, durchtrennt und verödet. Da kommt nichts mehr durch." Er sprach von ihren Eileitern. Nach der Anhörung brechen viele weitere Frauen ihr Schweigen.
Senatorin Boyers Mission ist es, solche Fälle von Zwangssterilisationen aufzuklären, sie ein für alle Mal zu stoppen. Und die Opfer zu entschädigen. Der Weg dorthin wird lang, weiß sie: Noch immer ist Zwangssterilisation kein Tatbestand im kanadischen Strafgesetzbuch. "Das Gesetz wäre ein Werkzeug", sagt die Senatorin. "Es würde nichts heilen. Aber es würde abschrecken. Die Leute würden sich vielleicht zweimal überlegen, ob sie eine Frau gegen ihren Willen sterilisieren, wenn sie dafür 14 Jahre ins Gefängnis kommen könnten."
Vergangenes Jahr wurde in den Nordwest-Territorien ein Arzt bestraft, weil er 2019 eine Inuit-Frau gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht hat. Er verlor seine Lizenz - für fünf Monate.
Frauen fehlt Vertrauen ins System
Der Senatsausschuss fordert ein nationales Gremium für Ermittlungen im ganzen Land. Denn nur in einem Bruchteil der Fälle gebe es Ermittlungen, obwohl fünf Prozent der fast 40 Millionen Kanadier zu indigenen Gemeinschaften zählen. "Im Norden waren wir beispielsweise noch nicht. Wir wissen: 26 Prozent der Frauen in Igloolik wurden sterilisiert. Sie brachten sie mit Schiffen in den Süden, machten Massensterilisationen und brachten sie zurück", sagt Boyer. "Aber wir brauchen genaue Daten."
Mindestens fünf Sammelklagen laufen in verschiedenen Provinzen. Die Frauen verklagen die Mediziner, aber auch die kanadische Regierung. Die hat inzwischen Millionen von Dollar für die Unterstützung der Opfer von Zwangssterilisationen bereitgestellt. Außerdem Geld, um indigenen Frauen den Zugang zu besserer gesundheitlicher Versorgung zu sichern. Etwa zu traditionellen Hebammen-Initiativen.
Die Frauen brauchten wieder Vertrauen ins Gesundheitssystem, sagt Lynne Groulx. Sie leitet die größte indigene Frauenorganisation des Landes, die "Native Women’s Association of Canada". "Es hat hunderte Jahre gedauert, bis wir da waren, wo wir jetzt sind. Und vielleicht wird es ebenso lange dauern, bis sich die Einstellung ändert", sagt sie. "Wir müssen mit Bildung und Erziehung anfangen. Damit unsere Kinder diese systemische Diskriminierung überkommen."