Kanadas Premierminister Justin Trudeau beim ASEAN-Gipfel im Oktober 2024.

Kanadas Premier Trudeau Vom Hoffnungsträger zum Absturzkandidaten

Stand: 11.10.2024 09:28 Uhr

Seit 2015 steht Justin Trudeau an der Spitze der kanadischen Regierung, holte damals mit seiner Partei die absolute Mehrheit. Doch neun Jahre nach dem Aufstieg kämpft er um sein politisches Überleben.

Justin Trudeau hat harte Wochen hinter sich. Erst beendete die linksgerichtete Partei NDP die Zusammenarbeit im Parlament mit seinen Liberalen. Dann musste der kanadische Premierminister zwei von der konservativen Opposition beantragte Misstrauensvoten überstehen, was ihm nur mit Hilfe des "Bloc Québècois" gelang, einer Regionalpartei der französischsprachigen Provinz Québec. Und in den Umfragen ist die einstige Lichtgestalt der kanadischen Politik geradezu abgestürzt.

Darrell Bricker, der Chef des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, ist einer der bekanntesten Demoskopen in Kanada. "Gäbe es morgen in Kanada Wahlen", sagt Bricker im Interview mit der ARD, dann würde Trudeaus Liberale Partei "wahrscheinlich eine der schlimmsten Niederlagen ihrer Geschichte erleiden".

 

Nur jeder Vierte würde Trudeau derzeit wählen

Fast 40 Prozent der Kanadierinnen und Kanadier hatten 2015 den damals erst 43-jährigen Trudeau gewählt und ihm eine absolute Mehrheit im Parlament beschert. Überall schlug ihm eine Welle der Sympathie entgegen. Doch nach neun Jahren an der Macht würden ihn derzeit nur noch 25 Prozent wählen, also nur noch jeder Vierte in Kanada.

Dagegen kommt der Chef der Konservativen Partei, Pierre Poilievre, auf eine Zustimmung von 45 Prozent. Deutschland sollte sich schon mal auf Poilievre als nächsten Regierungschef Kanadas einstellen, empfiehlt Bricker.

Fraglich sei nicht mehr das Ob - sondern nur noch, ob dies früher oder später passiere. Bricker rechnet mit vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr oder Frühsommer und sieht nur "sehr geringe Chancen", dass sich Trudeau noch ein Jahr an der Macht halten kann.

 

Hohe Preise, Wohnungsnot und Streiks sorgen für Unmut

Wie aber konnte es soweit kommen? Für die breite Unzufriedenheit der kanadischen Bevölkerung mit ihrem Regierungschef gebe es vor allem wirtschaftliche Ursachen, betont Bricker. Die teuren Lebensmittel- und Energiepreise in Kanada, der Mangel an bezahlbaren Wohnungen - und das in einem flächenmäßig großen Land mit viel Platz. Aber auch Bahnstreiks, die Kanada wochenlang lahmgelegt haben.

Diese Probleme habe Trudeau allzu zu lange ignoriert und stattdessen seine liberal-progressive Agenda verfolgt. Die Kanadier hätten "die Nase voll" von den Themen Klimawandel und Gender-Politik, sagt Bricker. Wenn das Geld im Portemonnaie nicht reiche und Wohnungsnot herrsche, dann erschienen diese Themen vielen Bürgern in Kanada zweitrangig.

Hinzu kam, dass Kanadas Wirtschaft im vergangenen Jahr nur noch um ein Prozent gewachsen ist. Mit Blick auf die USA haben viele Kanadierinnen und Kanadier Angst, ihr Land werde wirtschaftlich abgehängt. Trudeau gibt sich derweil gelassen. "Ich kümmere mich um die Belange der Bürger", sagt er immer wieder, "den politischen Streit überlasse ich den anderen Parteien".

Bricker glaubt nicht, dass Trudeau damit wieder punkten kann. Er erwartet schon bald einen Wechsel an der Spitze der Liberalen Partei. Als Favoritin für Trudeaus Nachfolge gilt die stellvertretende Premierministerin und Finanzministerin Kanadas, Chrystia Freeland. Ihr Problem sei, so Bricker, dass die Kanadier einen Neuanfang wollten. Freeland aber stehe nicht für einen Neuanfang. Denn zwischen Trudeau und Freeland habe politisch bislang kein Blatt gepasst.

 

Martin Ganslmeier, ARD New York, tagesschau, 11.10.2024 08:45 Uhr