Menschen gehen in der Innenstadt von Havanna eine Straße entlang.

Kuba Die Proteste der Mütter

Stand: 21.07.2024 16:34 Uhr

Seit den letzten großen Protesten vor drei Jahren haben Zehntausende Kuba verlassen. Seitdem gibt es nur noch kleinere Proteste. Die gehen vor allem von Frauen aus - denn sie sind von der Misere im Land am stärksten betroffen.

Rund zehn Kilometer von der Uferpromenade Malecón entfernt sitzt Lisbet in einem Armenviertel von Havanna in ihrer Parterre-Wohnung. Die Unterkunft hat der 30-Jährigen zwar der Staat gestellt, aber sie gleicht einer Baustelle - der Boden ist teils aufgerissen, an der Wand lehnt eine feuchte Matratze, Kabel liegen bloß.

Die Mutter von fünf Kindern ist wütend: "Ich habe kein Wasser und keine sanitären Anlagen. Ich lebe seit mehr als einem Jahr ohne fließendes Wasser."

Lisbet bekommt staatliche Unterstützung, 5.860 kubanische Pesos. Doch allein ein Karton Eier kostet auf dem Schwarzmarkt bereits 3.000 Pesos, etwa acht Euro.

Mit der Anwerbung von Teilnehmern für Wochenendausflüge ans Meer versucht Lisbet sich ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Davon können sie und ihre Kinder allerdings kaum überleben.

Die staatlichen Geschäfte sind leer

Sie ist auf die staatlichen Läden angewiesen, monatlich werden ihr Grundnahrungsmittel zugewiesen. Doch in den staatlichen Geschäften sind die Regale leer. An diesem Tag gibt es in dem Laden auf der anderen Straßenseite lediglich Zigaretten, Würstchen und Hackfleisch.

Viele Mütter würden sich in einer schrecklichen Situation befinden, berichtet Lisbet. Sie alle stellten sich die Fragen: "Was soll ich heute kochen, woher bekomme ich 10.000 Pesos, um meiner Tochter, die eingeschult wird, ein Paar Schuhe zu kaufen? Woher bekomme ich 5.000, 8.000 Pesos für einen Rucksack? Woher sollen wir das Geld nehmen?"

Es sind Kosten, die sie nicht tragen kann. Denn in den anderen Läden, den sogenannten MLC-Läden, wo nur mit einer speziellen, an Devisen gekoppelten Geldkarte bezahlt werden kann, gibt es zwar alles, was Lisbet braucht - Hühnchen, Eier, Nudeln, Öl, Milchpulver, Windeln - aber das zu unerschwinglichen Preisen. Eine Flasche Öl etwa gibt es für zehn Dollar, Kaffee für elf Dollar.

"Sie wollen dir alles verbieten"

Die Wut über ihre Situation hat sich bei ihr aufgestaut. Vor ein paar Monaten war sie so groß, dass sie sich zusammen mit sechs weiteren Müttern vor dem Haus von Staatspräsident Miguel Díaz-Canel postiert hat. Schnell kamen die Sicherheitskräfte und lösten den Protest auf, erinnert sie sich.

Eine Mutter sei für zwei Tage festgehalten worden. "Damit wollten sie uns Angst einjagen. Sie wollen dir alles verbieten, selbst das Reden. Ich will mich darüber beschweren können, was ich durchmache."

Das Revolutionsversprechen - längst hinfällig

In den vergangenen Jahren hat die kubanische Regierung eine ganze Reihe von Reformen auf den Weg gebracht. Privatleuten und Unternehmen sind Importe erlaubt, genauso wie kleinen und mittelständischen Unternehmen mit 100 Mitarbeitern.

Privilegiert sind allerdings die, die außerhalb Kubas Familie haben und von Rückzahlungen profitieren. So entsteht zunehmend eine wohlhabende Schicht, die soziale Ungleichheit wird immer größer.

Läuft man durch Havanna, sieht man an den Straßenrändern immer wieder Menschen im Abfall wühlen. Und auf der anderen Seite steht vielleicht ein SUV-Porsche vor einer frisch sanierten Kolonialvilla. Das große Revolutions-Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft wird längst nicht mehr eingelöst.

Regierung erklärt "Kriegswirtschaft"

Angesichts der gravierenden Krise hat die Regierung nun vor wenigen Wochen die "Kriegswirtschaft" erklärt. Zu den Maßnahmen gehören laut Parteizeitung Granma Haushaltskürzungen, Preiskontrollen, die Erhöhung des Devisenzuflusses ins Land und die Förderung der heimischen Nahrungsmittelproduktion. Zudem solle auch gegen Steuerhinterziehung vorgegangen werden.

"Mit Überzeugung werden wir die Revolution und den Sozialismus retten", beschwor der kubanische Staatschef Díaz-Canel Anfang Juli vor seinen Ministern. Die Maßnahmen seien die notwendige Antwort auf die sogenannte "Kriegshandlung in Friedenszeiten".

Damit ist das seit Jahrzehnten verhängte Wirtschaftsembargo der USA gemeint, das auch unter US-Präsident Joe Biden nicht gelockert wurde. Natürlich wirke sich das negativ auf die Wirtschaft aus, meint auch der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny.

In den vergangenen fünf Jahren, nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump das Embargo verschärft hatte, indem er Kuba auf die Terrorliste setzte, habe der Druck natürlich nochmal zugenommen. Dagegen könne Kuba nichts ausrichten.

"Aber die Regierung hat Einfluss auf die internen Probleme, die interne Wirtschaft, da kann sie justieren. Ich denke, es gibt viele Dinge, die man tun kann. Denn beispielsweise ein Bauer, der nicht den Preis für seine Produkte erhält, hat nichts mit der Blockade zu tun."

Das unattraktive staatliche Ankaufsystem für Agrarprodukte würde die Bauern mit geringen Ankaufpreisen demotivieren. Gerade in der Landwirtschaft müsse die Regierung aber ansetzen. Denn das grundsätzliche Problem der kubanischen Krise werde nicht mit den neuen Maßnahmen einer Kriegswirtschaft gelöst, kritisiert Everleny.

Proteste haben sich verändert

Anders als bei den größten Protesten seit Jahrzehnten im Juli 2021 als tausende Menschen im ganzen Land auf die Straße gingen, sind es heute vor allem kleine Proteste, bei denen Änderungen gefordert werden: etwa, wenn Bewohnerinnen und Bewohnern eines Viertels der Kragen platzt, wenn das Wenige, was sie in den Läden ergattern konnten, in der Hitze des Sommers verdirbt weil der Kühlschrank 16 Stunden keinen Strom mehr hatte.

Die größte spontane Demonstration gab es zuletzt im März in Santiago de Kuba mit hunderten Menschen. 17 der Protestierenden wurden in den Folgetagen festgenommen und ohne Angabe von Gründen festgehalten, wie juristische Hilfsorganisationen wie Cubalex berichten.

Zudem wurde das Internet abgeschaltet. Gegen Kautionszahlungen von 50.000 Pesos wurden die meisten wieder freigelassen. Sie müssen nun aber mit einem Prozess rechnen. Im Juni dieses Jahres haben Menschenrechtsorganisationen um die tausend Fälle dokumentiert, bei denen Menschen aus politischen Gründen inhaftiert wurden.

Junge, gut Ausgebildete verlassen das Land

In den vergangenen beiden Jahren haben rund 1,7 Millionen Kubanerinnen und Kubaner ihre Heimat verlassen. Ärzte, Pflegepersonal, Lehrer, vor allem junge, gut ausgebildete Menschen machen sich auf den Weg ins Ausland, weil sie schlicht nicht ausreichend verdienen und keine Perspektiven mehr für sich in ihrer Heimat sehen.

Jemand, der beispielsweise 100 Dollar von Verwandten im Ausland erhält, bekomme das dreifache von dem, was ein Arzt im Monat verdient, rechnet Lisbet vor.

Von der Regierung werde ihr vorgeworfen, sie sei eine Aktivistin. "Aber ich gehöre keiner Gruppe an. Denn das Einzige, was mich interessiert, ist mein Wohlergehen und das meiner Kinder. Ich will nicht, dass mir der Staat irgendetwas schenkt."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Juli 2024 um 13:40 Uhr.