Fund von Kinderleichen in Kanada "Wir werden für Gerechtigkeit kämpfen"
Aufarbeitung statt Gesten: Die kanadische Regierung will sich nach dem Fund von Überresten von 215 indigenen Kindern auf dem Gelände eines ehemaligen Umerziehungs-Internats der Verantwortung stellen.
50 Sekunden lang schweigt der Chef der oppositionellen Neuen Demokratischen Partei, Jagmeet Singh. Er ringt mit den Tränen, muss schlucken. Und antwortet dann auf die Frage der Reporterin, was er den Angehörigen der toten Kinder sagen wolle: "Es tut mir leid. Wir werden für euch für Gerechtigkeit kämpfen."
Der erste Schritt: Das Parlament in Ottawa soll sich in einer Sondersitzung mit dem Fall befassen, der seit Tagen Kanada erschüttert. Vor öffentlichen Gebäuden haben Menschen Kinderschuhe aufgereiht. Die Flaggen wehen auf Halbmast - 215 Stunden lang. Für die 215 Kinder, deren sterbliche Überreste auf dem Gelände eines Internats für Angehörige von Indigenen in Kamloops in der Provinz British Columbia gefunden wurden.
"215 Kinder von Indigenen in einem nicht gekennzeichneten Massengrab. Da denken wir normalerweise an ein weit entferntes Land, in dem ein Völkermord geschehen ist", meint Singh. "Aber das ist kein fernes Land. Das ist hier in Kanada. Und es ist ein Völkermord an den kanadischen Indigenen."
Unterdrückung der First Nations
Kultureller Völkermord - so hatte bereits 2015 eine Untersuchungskommission den Umgang der kanadischen Regierung mit den sogenannten First Nations genannt, den Indigenen, deren Kinder von etwa 1870 bis in die 1990er-Jahre in Internate wie das in Kamloops gesteckt wurden. Mit dem Ziel, dass sie ihre Sprache, Traditionen und Kultur aufgeben und sich an die Gesellschaft der europäischen Einwanderer anpassen.
"Kinder wurden ihren Familien weggenommen. Zurück kamen sie schwer traumatisiert oder gar nicht mehr - ohne eine Erklärung", so der sichtlich betroffene kanadische Premierminister Justin Trudeau. "Kamloops ist keine traurige Ausnahme. Diese Internate waren eine Realität. Und eine Tragödie. Hier in unserem Land. Und wir müssen uns dieser Verantwortung stellen."
Nur schöne Worte?
Trudeau hatte die Versöhnung mit den kanadischen Ureinwohnern beim Amtsantritt 2015 zu einem Schwerpunkt seiner Politik erklärt. Doch passiert sei wenig, wirft ihm nicht nur Rosanne Casimir vor, die Leiterin der in Kamloops lebenden indigenen Gruppe: "Diese Gesten jetzt sind gut und schön. Aber wir als Gemeinschaft müssen mit diesem grausamen Erbe leben. Die kanadische Regierung hat dieses Internatssystem initiiert. Sie ist verantwortlich dafür, sich um die betroffenen Gemeinden und Familien zu kümmern. Und das muss jetzt auch passieren."
Trudeau deutete an, die Forderung des Chefs der Vertretung der kanadischen Indigenen, Perry Bellegarde, zu unterstützen, jetzt die Gelände aller ehemaligen Internate untersuchen zu lassen.
Rund 140 solcher Einrichtungen gab es in Kanada, die letzte wurde erst 1996 geschlossen. 150.000 Kinder wurden zwangsweise in diese Heime gesteckt, viele von ihnen misshandelt und sexuell missbraucht. Mindestens 4100 starben, vor allem an Tuberkulose, Masern und Grippe. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.
System der Pflegefamilien in der Kritik
Nach Ansicht der Vorsitzenden der kanadischen Grünen, Annamie Paul, setzt sich das Unrecht sogar heute noch fort: "Wir müssen zugeben, dass das System dieser Internate ersetzt wurde durch das System der Pflegefamilien. 52 Prozent aller Kinder bei Pflegeeltern stammen aus indigenen Familien. Dabei machen sie gerade mal sieben Prozent aller Kinder in Kanada aus. Ein System hat das andere abgelöst. Und das Leid und der Schmerz gehen weiter."
Viele indigene Gemeinschaften machen die Heime, die ganze Generationen geprägt haben, für heutige soziale Probleme wie Alkoholismus, häusliche Gewalt und erhöhte Selbstmordraten verantwortlich. Die Regierung in Ottawa hatte sich 2008 offiziell bei den Überlebenden entschuldigt und zusammen mit Kirchen zwei Milliarden kanadische Dollar - heute umgerechnet knapp 1,4 Milliarden Euro - Entschädigung gezahlt.