Reaktionen auf Supreme-Court-Urteil "Tragischer Fehler" oder "Entscheidung Gottes"?
Schon kurz nach dem Urteil zum Abtreibungsrecht kochen die Gemüter in den USA hoch. US-Präsident Biden sprach von einem "tragischen Fehler". Sein Vorgänger, der den Weg für das Verbot geebnet hatte, jubelte über eine "Entscheidung Gottes".
US-Präsident Joe Biden hat die historische Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gegen das liberale Abtreibungsrecht in den Vereinigten Staaten als "tragischen Fehler" bezeichnet. "Es ist meiner Ansicht nach die Verwirklichung einer extremen Ideologie und ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs", so Biden. "Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikanischen Angriff zu bekämpfen." Der US-Kongress müsse jetzt handeln, um in der Sache das letzte Wort zu haben. "Es ist nicht vorbei", so Biden.
Er warf der konservativen Mehrheit am Obersten Gerichtshof vor, das Land mit ihrer Entscheidung 150 Jahre zurückgeworfen zu haben. Nachdem die Richter das seit 49 Jahren verankerte Recht auf Abtreibung gekippt haben, stehe der US-Kongress in der Pflicht, dieses Recht per Gesetz zu garantieren. Da das aber mit den jetzigen Mehrheitsverhältnissen unmöglich sei, müssten die Amerikaner bei den Zwischenwahlen im Herbst für jene stimmen, die sich dafür einsetzen. Er warnte, dass das Urteil in weiterer Folge auch das Recht auf Verhütung oder die Ehe für Alle gefährden könnte.
Trump feiert Urteil als "Entscheidung Gottes"
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Entscheidung des Supreme Court, das landesweite Recht auf Abtreibung zu kippen, hingegen als Entscheidung Gottes gefeiert. "Gott hat das entschieden", sagte der 76-Jährige dem Sender Fox News. Der Schritt stehe im Einklang mit der Verfassung und hätte schon "vor langer Zeit" geschehen sollen.
Trump hatte in seiner Amtszeit den Supreme Court deutlich nach rechts gerückt. Der Republikaner ernannte während die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Sie alle stimmten dafür, das Recht auf Abtreibung zu kippen - gemeinsam mit den konservativen Richtern Clarence Thomas und Samuel Alito.
Scharfe Kritik von den Vereinte Nationen
Scharfe Kritik an dem Urteilsspruch kam von der Beauftragten für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Dies sei "ein schrecklicher Schlag gegen die Menschenrechte der Frauen", erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet. "Der Zugang zu sicheren, legalen und wirksamen Abtreibungen ist fest im internationalen Menschenrecht verankert."
Zuvor hatte bereits der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen auf die Gesundheitsrisiken für Frauen hingewiesen. "Daten zeigen, dass die Einschränkung des Zugangs zur Abtreibung die Menschen nicht davon abhält, eine Abtreibung durchzuführen - sie macht sie nur tödlicher."
Justizminister sichert Frauen Unterstützung zu
Justizminister Merrick Garland sicherte betroffenen Frauen die Unterstützung der Regierung zu. Das Justizministerium werde alle Werkzeuge nutzen, die es zur Verfügung habe, um die freie Entscheidung von Frauen beim Thema Abtreibung zu schützen.
Garland sagte, das Justizministerium werde sicherstellen, dass Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollen, das in jenen US-Bundesstaaten, in denen das weiterhin erlaubt ist, auch tun können. Außerdem betonte er, die US-Arzneimittelaufsichtsbehörde FDA habe das Abtreibungsmedikament Mifepristone freigegeben. Da Experten es als sicher erachten, könnten es einzelne Staaten auch nicht einfach verbieten, sagte Garland. Mehr als die Hälfte der Abtreibungen in den USA werden mit solchen Abtreibungspillen vorgenommen.
Republikaner und Bischöfe jubeln
Die führenden Republikaner im US-Kongress, Kevin McCarthy, Steve Scalise und Elise Stefanik, jubelten hingegen nach dem Urteil. In einer gemeinsamen Erklärung schrieben sie: "Wir begrüßen diese historische Entscheidung, die unzählige unschuldige Leben retten wird."
Auch die katholische US-Bischofskonferenz begrüßte das Urteil und sprach von einem "historischen Tag im Leben unseres Landes". Seit fast 50 Jahren gelte in Amerika ein "ungerechtes Gesetz", das es einigen ermöglichte zu entscheiden, "ob andere leben oder sterben können"; diese Politik habe zum Tod von zig Millionen Ungeborenen geführt. Generationen sei das Recht verweigert worden, überhaupt geboren zu werden, heißt es in einer Erklärung des Vorsitzenden, Erzbischof Jose Gomez, und von Erzbischof William Lori, Vorsitzender des Ausschusses für Pro-Life-Aktivitäten.
Der Vatikan reagierte hingegen zunächst moderat. In einer Erklärung der Päpstlichen Akademie für das Leben hieß es unter anderem: "Nach 50 Jahren ist es wichtig, wieder eine ideologiefreie Debatte zu beginnen über den Stellenwert, den der Schutz des Lebens in der zivilen Gesellschaft hat, um uns zu fragen, welche Art von Zusammenleben und Gesellschaft wir aufbauen wollen." Papst Franziskus, von dem es zunächst keine persönliche Reaktion zu dem Urteil gab, hatte stets betont, dass er gegen jede Form von Abtreibung sei; er setzte sie mit Mord gleich.
Obama ruft zum Protest auf
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama rief kurz nach dem Urteil zum Widerstand auf. "Heute hat der Oberste Gerichtshof nicht nur fast 50 Jahre Präzedenzfälle rückgängig gemacht, er hat die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen überlassen - und die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikanern angegriffen", schrieb Obama bei Twitter.
Obama teilte zudem ein Bild mit dem Text: "Schließt Euch den Aktivisten an, die seit Jahren Alarm schlagen beim Zugang zu Abtreibungen, und handelt. Unterstützt sie beim örtlichen Protest", hieß es dort. Seine Frau Michelle Obama schrieb: "Ich bin untröstlich für die Menschen in diesem Land, die gerade das Grundrecht verloren haben, fundierte Entscheidungen über ihren eigenen Körper zu treffen." Der Richterspruch müsse ein Weckruf vor allem für junge Menschen sein.
Mehrheit der US-Amerikaner für Recht auf Abtreibung
Nach der Entscheidung des Supreme Court kam es vor dem Gerichtsgebäude in Washington bereits zu ersten Protesten. Dort hatten sich zuvor schon Gegner und Befürworter versammelt. Auch in anderen Städten des Landes werden Proteste erwartet. Die Stimmung war bereits aufgeheizt, nachdem vor rund zwei Monaten ein Entwurf der Entscheidung öffentlich wurde.
Nur eine Minderheit der US-Bevölkerung war Umfragen zufolge dafür, dass Roe v. Wade gekippt wird. Dem Institut Gallup zufolge unterstützt seit den 1970er-Jahren eine Mehrheit das Recht auf Abtreibung - mit Einschränkungen oder unter allen Umständen.
Pelosi warnt: "Das ist erst der Anfang"
Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, warnte, republikanische Politiker planten nun Gesetze für ein nationales Abtreibungsverbot. In republikanisch regierten Bundesstaaten "wollen sie Ärzte verhaften, die reproduktive Gesundheitsversorgung anbieten". Sie wollten "Frauen bestrafen und kontrollieren".
"Es ist ein Schlag ins Gesicht für Frauen", sagte die Demokratin. Die Beschränkung von Abtreibung sei erst der Anfang, warnte sie. "Das ist todernst." Pelosi verwies auf die Kongresswahlen im November - dort stehe das Recht der Frauen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, auf dem Wahlzettel.
Manche Kritiker befürchten, mit der Logik des Urteils werden republikanische Politiker weitere Urteile des Obersten Gerichts anfechten, etwa das von 2015 zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.
Der mächtige Demokrat Chuck Schumer zeigte sich schockiert. "Heute ist einer der dunkelsten Tage, die unser Land je gesehen hat", schrieb der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat auf Twitter. Amerikanischen Frauen sei ihr Grundrecht auf Abtreibung von Trump-nahen Richtern "gestohlen" worden.
Menschenrechtler fassungslos
Auch Menschenrechtsorganisationen reagierten entsetzt. "Der Zugang zu Abtreibung ist entscheidend, um fundamentale Menschenrechte zu gewährleisten, inklusive des Rechts auf Leben und persönlicher Sicherheit, Privatsphäre, Nicht-Diskriminierung und Freiheit von grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung,", erklärte Human Rights Watch. "Alle diese Rechte werden in internationalen Vereinbarungen erkannt, die die USA ratifiziert haben."
Amnesty International erklärte, das Urteil sei ein düsterer Meilenstein in der Geschichte der USA. Es betreffe jede einzelne Person in den USA, ungeachtet, ob sie schwanger werden könnte oder nicht.
Trudeau reagiert entsetzt
Auch international reagierten Politiker auf das Urteil des Supreme Court. Kanadas liberaler Premier Justin Trudeau äußerte sich entsetzt über die Entscheidung. "Keine Regierung, kein Politiker oder Mann sollte einer Frau sagen, was sie mit ihrem Körper machen kann und was nicht", schrieb Trudeau auf Twitter und versicherte kanadischen Frauen, für ihr Recht auf Abtreibungen einzustehen. Die Nachrichten aus dem Nachbarland USA seien "erschreckend".
Der britische Premierminister Boris Johnson bezeichnete die Entscheidung der US-Richter als "großen Rückschritt". Er sei immer schon der Ansicht, dass die Entscheidung bei den Frauen liegen müsse, sagte Johnson bei einem Besuch in Ruanda.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus äußerte sich "fassungslos" über das Urteil. Die Grünen-Politikerin schrieb auf Twitter von einer schockierenden Nachricht. "Ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen sorgt erwiesenermaßen nicht für weniger Abbrüche, es sorgt für eine Gefährdung der Schwangeren, denn ihnen wird ein sicherer und medizinisch begleiteter Abbruch verwehrt."