Nach dem Erdbeben in Syrien Die politisierte Katastrophe
Tausende Menschen in Syrien sind auch eine Woche nach dem Erdbeben immer noch weitestgehend auf sich allein gestellt. Es kommt kaum Hilfe an - auch weil Machthaber Assad die Katastrophe für seine Zwecke nutzt. Von Anna Osius.
Tausende Menschen in Syrien sind auch eine Woche nach dem Erdbeben immer noch weitestgehend auf sich allein gestellt. Es kommt kaum Hilfe an - auch weil Machthaber Assad die Katastrophe für seine Zwecke nutzt.
Genau eine Woche ist es jetzt her, dass sich für den siebenjährigen Negm aus Jindires in Nordsyrien alles veränderte. "Wir schliefen im Haus, plötzlich fiel eine Wand auf meine Geschwister", erzählt er. "Zum Glück ist meiner Schwester und mir nichts passiert. Wir sind auf die Straße gerannt, haben es nach draußen geschafft. Dann hat die Erde wieder gewackelt, als wir schon auf der Straße standen."
Das Zuhause des Siebenjährigen gibt es nicht mehr. Aber seine Familie hat wie durch ein Wunder überlebt. "Wir schliefen, als plötzlich der Boden wackelte", berichtet Vater Abdallah. "Plötzlich stürzten die Wände ein, die Gebäude. Ich hab versucht, meine Kinder zu greifen, ich rief ihnen zu 'Schützt eure Köpfe!'. Wir rannten, wir hatten solche Angst - und wussten nicht, was wir tun sollten."
Idlib tagelang von Außenwelt abgeschnitten
Binnen Sekunden stürzten vier-, fünfstöckige Gebäude einfach in sich zusammen, erzählen die Überlebenden von Jindires den Reportern der Nachrichtenagentur Reuters. Negm und seine Familie leben jetzt in einem Zelt am Stadtrand. Wenigstens haben sie ein Dach über dem Kopf.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute: Die Nothilfe in Syrien ist nur langsam angelaufen. Die Provinz Idlib war sogar tagelang von der Außenwelt abgeschnitten. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths räumte ein, man habe die Menschen im Nordwesten Syriens im Stich gelassen. "Es hat bis heute seit dem Erdbeben keine Hilfstransporte über die innersyrische Grenze gegeben", sagt Richard Brennan von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). "Wir planen einen Transport für die kommenden Tage, aber wir verhandeln noch, damit er durchkommt."
Syrien in Machtbereiche zersplittert
Syrien ist durch den langjährigen Bürgerkrieg in verschiedene Machtbereiche zersplittert. Der Nordwesten wird von Aufständischen kontrolliert - doch die meiste Hilfe kommt aktuell in Aleppo und Damaskus an, in den Regionen, die von Machthaber Bashar al-Assad regiert werden. Nach langem Hin und Her stimmte der Präsident der Weitergabe von Hilfslieferungen in den Nordwesten zu, solange ein guter Teil der Hilfsgüter in seinem Herrschaftsbereich bleibe.
Doch darüber gibt es offenbar Streit mit den Aufständischen. Die führende extremistische Gruppierung in Idlib, Haiat Tahrir al Sham, eine militant-islamistische Miliz mit Nähe zu Al Kaida, verweigerte bislang offenbar die Auslieferungsgenehmigung für die Hilfskonvois.
Kritiker: Assad nutzt Erdbeben für seine Zwecke
Eine politisierte Katastrophe - auf beiden Seiten. Auch gegen Assad wird Kritik laut: Zu spät habe der syrische Präsident nach dem Erdbeben reagiert und Nothilfe angefordert, heißt es - statt eines echten Katastrophen-Managements nutze die Assad-Regierung das Erdbeben für ihre Interessen, sagen Beobachter. So fordert Damaskus die dauerhafte Aufhebung der internationalen Sanktionen gegen Syrien, wirbt für eine diplomatische Rehabilitierung des Assad-Regimes. EU und USA lehnen das ab und betonen: Nothilfe sei von den Sanktionen nicht betroffen. Die USA setzten sämtliche Regelungen für mehrere Monate aus.
"Assad hat die Sanktionsfrage politisiert", sagt Melani Cammett von der Harvard University. "Er behauptet, die Sanktionen seien schuld an allen humanitären Problemen in Syrien." Doch das sei irreführend. Assad politisiere die Katastrophe. "Und das wird sehr wahrscheinlich auch bei der Verteilung der Hilfsgüter passieren", meint Cammett. "Nach unseren Erfahrungen mit Assad bezweifle ich sehr stark, dass die Hilfe gerecht nach Bedürfnissen verteilt wird und die Hilfslieferungen nicht politisiert werden."
Hunderttausende sind obdachlos
Es sind Machtspiele auf dem Rücken der Zivilisten: Tausende Menschen in Syrien sind auch eine Woche nach dem Erdbeben offenbar immer noch weitestgehend auf sich allein gestellt. Im Nordwesten können erst seit einigen Tagen Hilfslieferungen den türkischen Grenzübergang Bab al Hawa Richtung Idlib passieren. Und angesichts der Dimension des Elends kommt insgesamt viel zu wenig Hilfe nach Syrien: "Zehn Millionen Menschen sind in Syrien vom Erdbeben betroffen", sagt WHO-Experte Brennan. "Allein in der Gegend von Aleppo und Latakia sind etwa 350.000 Menschen obdachlos."
Doch dann - zwischen all dem Leid - gibt es die kleinen Geschichten, die Hoffnung geben: In Nordsyrien konnten die Helfer vor einigen Tagen ein weinendes Kleinkind aus den Trümmern befreien. Staubig, aber nahezu unverletzt. Die Kleine hatte überlebt, geschützt von ihrer großen Schwester, die das Kind im zusammengestürzten Haus immer noch auf dem Schoß hielt. Mit ihrem Körper hatte die große Schwester das kleine Mädchen von den herabstürzenden Steinen bewahrt. Die Schwester konnte nur noch tot geborgen werden.