Import von Gas Hauptsache nicht Russland
Abkehr vom russischen Gas bedeutet: Neue Lieferanten müssen her. Viele Staaten, die die EU nun umwirbt, haben erhebliche Defizite in Sachen Menschenrechte - das macht die Sache für die Europäer heikel.
Ägypten
"Details wurden nicht genannt": Diese Feststellung zog sich durch alle Agenturmeldungen zum Gespräch zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al Sisi in Berlin, als es um die Frage ging, ob Scholz al Sisi auf das Thema Menschenrechte angesprochen habe. Ja, man habe darüber geredet, hieß es hinterher schlicht. Und Scholz hob hervor, er habe al Sisi auf die segensreiche Wirkung von "entschlossenen Schritten" zu mehr Partizipation und Rechtsstaatlichkeit hingewiesen - diese trügen "dazu bei, die Lage zu verbessern und die Wirtschaft nachhaltig zu stärken und zu stabilisieren".
Dass al Sisi auf solche Ratschläge sonderlich viel gibt, darf getrost bezweifelt werden. Der frühere Oberbefehlshaber der Armee regiert das Land seit 2014 und geht dabei härter gegen Oppositionelle vor als sein Vor-Vorgänger Hosni Mubarak, der im ägyptischen Frühling 2011 gestürzt worden war. In den Gefängnissen sollen mehr als 65.000 politische Gefangene sitzen, die Hälfte davon in Untersuchungshaft. Al Sisis Regierung will davon nichts wissen und behauptet, es gebe gar keine politischen Gefangenen.
Zwar rief al Sisi unlängst einen nationalen Dialog aus, woraufhin einige frei kamen - doch die Zielrichtung dieses Dialogs ist weiter unbekannt. Oppositionelle vermuten, dass sich die Initiative mehr an die EU und die USA als an die Opposition richtet. Ägypten befindet sich seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise und ist auf ausländische Gelder angewiesen. Sisi bot der EU in Berlin eine Energiepartnerschaft an. Auf der Liste der Erdgas-produzierenden Länder steht Ägypten auf Platz 14.
Algerien
Algeriens Hoffnung auf einen politischen Wandel dauerten nicht lange. Zwar wurde 2019 der greise Langzeit-Herrscher Abdelaziz Bouteflika durch die "Hirak"-Aufstände gestürzt, doch sein Nachfolger Abdelmadjid Tebbounes herrscht ähnlich autoritär.
Amnesty International hielt 2021 fest, dass die Behörden zunehmend "auf die Anschuldigungen 'Terrorismus' oder 'Verschwörung gegen den Staat' zurückgreifen, um Menschenrechtsverteidiger und Hirak-Aktivisten zu verfolgen". Um Widerspruch zu zerschlagen und Protest zum Schweigen zu bringen, sei den Behörden jedes Mittel recht. Mittlerweile sollen sich Hunderte Algerier in Haft befinden, schreibt Amnesty in einem neuen Bericht unter Berufung auf algerische Organisationen.
Algerien ist inzwischen der wichtigste Gas-Lieferant Italiens, auch weil die russischen Lieferungen deutlich zurückgegangen sind. Ministerpräsident Mario Draghi handelte zu Wochenbeginn einen weiteren Vertrag in Algier aus. Das dürfte in Spanien mit Aufmerksamkeit verfolgt werden, denn das Land bezieht ebenfalls Gas aus Algerien, befindet sich allerdings mit Algier im Streit über West-Sahara. Dort unterstützt Spanien neuerdings Algeriens Nachbarland Marokko, das das Gebiet 1975 annektiert hat. Algerien wiederum unterstützt die Widerstandsbewegung Polisario, die ein Referendum über die Unabhängigkeit der West-Sahara anstrebt. In der vergangenen Woche setzte Algerien deshalb den Freundschaftsvertrag mit Spanien aus, bestritt aber nach einer Intervention der EU, dass eine solche Entscheidung überhaupt gefallen sei.
Angola
Angola war ein weiteres Ziel italienischer Bemühungen, vom russischen Gas loszukommen. Im April reisten Vertreter der italienischen Regierung und des staatlichen Energieversorgers Eni in das westafrikanische Land und kamen mit einer Absichtserklärung für mehr Gaslieferungen wieder: eine Milliarde Kubikmeter soll Angola ab 2023 nach Italien schicken.
Angola gehört zu den größten Rohölproduzenten Zentralafrikas und ist trotz Gegenbestrebungen stark vom Ölexport abhängig. Im Land selbst bricht die Energieversorgung häufig zusammen, große Teile der rasch wachsenden Bevölkerung leben in Slums. Die Entscheidungsmacht - auch in vielen wirtschaftlichen Prozessen - ist in den Händen des Präsidenten Joao Lourenco konzentriert, korrupte Eliten verhindern einen breiten Aufschwung.
Gewaltenteilung oder ein Bewusstsein für Rechtsstaatlichkeit gibt es kaum, jedoch häufig Berichte über brutale Polizeieinsätze mit Toten gegen die Bevölkerung. Auf Empörung, weil bei der Durchsitzung der Corona-Schutzmaßnahmen 2020 Bürger getötet worden waren, entgegnete Innenminister Eugénio Laborinho damals: "Die Polizei ist nicht im Einsatz, um Süßigkeiten zu verteilen oder Schokolade auszugeben."
Kongo
Nachdem die italienische Delegation im April erfolgreich in Angola verhandelt hatte, ging es weiter in den Kongo, und dort wurde ein noch größerer Deal abgeschlossen. 4,5 Milliarden Kubikmetern LNG sollen ab 2023 nach Italien geschifft werden.
Beim Verhandlungspartner wusste die italienische Seite nur zu gut, wen sie vor sich hatte. Präsident Denis Sassou-Nguesso regiert das Land ununterbrochen seit 1997, zuvor war er schon von 1979 - 1992 Staatschef gewesen. Bei den Präsidentschaftswahlen wirft die Opposition dem 78-Jährigen regelmäßig Manipulation vor. Im Demokratieindex des "Economist" bekommt die Republik Kongo das Etikett "autoritätes Regime". Im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 von Transparency International nimmt Kongo zusammen mit Guinea-Bissau Rang 162 von 180 Staaten ein - wohl auch eine Erklärung dafür, dass die Bevölkerung wenig von dem Rohstoffreichtum des Landes hat, im Gegensatz zum Umfeld des Präsidenten, wie die internationalen Recherchen zu den Panama-Papers 2016 zeigten.
Aserbaidschan
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew strahlten um die Wette, als sie zu Wochenbeginn ein vorläufiges Abkommen über die Verdoppelung der Erdgaslieferungen der Ex-Sowjetrepublik in die EU innerhalb von fünf Jahren abschlossen. Ab 2027 sollen demnach jährlich mindestens 20 Milliarden Kubikmeter fließen - bislang sind es jährlich 8,1 Milliarden Kubikmeter.
Alijew regiert das Land seit 2003 - als Nachfolger seines Vaters Hejdar, der das Land seit 1993 regiert hatte, und er regiert es nicht minder autoritär. Die Opposition und unabhängige politische Organisationen wurden systematisch an den Rand gedrängt und vor Gericht gezogen. Bei der Parlamentswahl 2020 konstatierte die OSZE "erhebliche verfahrenstechnische Verstöße beim Zählen und Registrieren der Stimmen am Wahltag". Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hielt im selben Jahr fest, es bestehe "kein Zweifel mehr, dass Aserbaidschan im Zusammenhang mit politischen Gefangenen ein Problem hat und dass dieses auf strukturelle und systemische Ursachen zurückzuführen ist".
Aserbaidschan strebt die völlige Kontrolle über die Region Berg-Karabach an, die in Teilen vom benachbarten Armenien kontrolliert wird. Im Herbst 2020 kam es über Wochen zu schweren Kämpfen mit Tausenden Toten, in denen Aserbaidschan einen Teil des Gebietes eroberte.
Katar
Katar zählt zu den weltweit größten Exporteuren von Flüssigerdgas. Schon im März - etwa einem Monat nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine - reiste Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nach Katar, um dort "Türöffner" für deutsche Energiegeschäfte zu sein, wie er selbst sich nannte.
Für Habeck war das mutmaßlich keine leichte Reise, steht Katar doch seit vielen Jahren im Zentrum massiver Kritik - von Menschenrechtlern aber auch Gewerkschaften. Grundlage der katarischen Gesetzgebung ist die Scharia, Frauen sind Männern juristisch nicht gleichgestellt, sexuelle Minderheiten werden kriminalisiert, das Land verhängt und vollstreckt weiterhin die Todesstrafe.
Und dann ist da noch die Sache mit der Fußball-WM Ende des Jahres: Zahlreiche Recherchen bestätigen, dass ausländische Arbeitskräfte etwa beim Bau der Stadien systematisch ausgebeutet und misshandelt werden - es gibt auch Berichte über Tote. Von Katar gelobte Reformen, die das Kafala-Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Lohnempfänger begrenzen, werden laut Kritikern bislang nur unzureichend umgesetzt.
Habeck selbst sagt, er habe dabei über die Bedeutung von Standards beim Arbeitsschutz gesprochen, die das Wirtschaftsministerium in Doha bekräftigt habe. Am Ende des Besuchs stand ein Abkommen über eine langfristige Energiepartnerschaft, die sowohl LNG-Lieferungen als auch einen Ausbau erneuerbarer Energien umfassen soll - etwa Wasserstoff-Technologie. Die genauen Mengen sind noch unbekannt, die Details werden nun auf Firmenebene ausgehandelt.
Senegal
Gas aus Senegal - diese Variante fand bis zum Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine hierzulande wenig Beachtung. Nun sind die erst vor wenigen Jahren entdeckten Vorkommen vor der Küste Senegals und Mauretaniens attraktiv geworden; nicht zuletzt deshalb startete Kanzler Scholz im Mai seine erste Afrika-Reise in Dakar.
Ab 2023 will Senegal Flüssiggas exportieren, Europa wird allerdings nicht zu den ersten Empfängern gehören: Zunächst soll der Export nach Asien gehen. Präsidenten Macky Sall will damit unter anderem den Ausbau der Stromversorgung in seinem Land fördern - und weist mit dem Argument auch die Kritik von Umweltschützern an der geplanten Ausbeutung der Gasvorräte auf See zurück. Die Bevölkerung in dem Land wächst stark, ihr Durchschnittsalter liegt bei 19 Jahren.
Sall regiert das Land seit 2012, 2024 darf er laut Verfassung nicht wieder antreten. Die Opposition mutmaßt, dass Sall sich über diesen Passus hinwegsetzen will. Der Demokratie-Index des britischen "Economist" führte den Senegal 2020 in der Sparte der "hybriden Regime" - eine Stufe vor den autoritären Regimen. Mit Rang 86 von 167 Staaten lag Senegal damit einen Platz vor Hongkong. "Reporter ohne Grenzen" attestierte dem Land in ihrem Jahresbericht 2022 zwar eine "solide Demokratie", verwies aber zugleich auf einen beispiellosen Anstieg von Gewalt gegen Journalisten im Vorjahr.
Vereinigte Arabische Emirate
Bei westlichen Staats- und Regierungschefs wird der neue Machthaber der Vereinigten Arabischen Emirate, Mohammed bin Zajed al Nahjan, international gerne abgekürzt als MBZ, hofiert wie nur wenige andere. Bundeswirtschaftsminister Habeck vereinbarte schon im März eine vertiefte Zusammenarbeit bei der Forschung an Wasserstoff als Energieträger und synthetischem Kerosin, US-Präsident Joe Biden lud den Emir von Abu Dhabi während seiner Nahostreise nach Washington an, am Montag war MBZ auf seiner ersten Auslandsreise im Amt zu Gast in Paris: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfing ihn mit militärischen Ehren und einem Staatsbankett.
Im Ergebnis schlossen Macron und bin Zajed eine Vereinbarung über Diesel-Lieferungen und über eine künftige Zusammenarbeit im Bereich Wasserstoff als Energieträger.
Die VAE lagen 2020 auf Platz sieben aller Länder mit Erdgasreserven, bei Erdöl war es Platz acht. Dies und den prall gefüllten Staatsfond wandeln die Emirate in politische Macht um. Ihre Soldaten sind in den Konflikten im Jemen und in Libyen beteiligt, das kleinere Katar versuchten die Emirate zusammen mit Saudi-Arabien lange mit einer Blockade auf Linie zu bringen. In Sachen Russland hat das Emirat eine Verurteilung des Überfalls auf die Ukraine bislang abgelehnt, bietet zugleich reichen Russen einen Unterschlupf.
Im Inneren gibt es nur begrenzt eine demokratische Mitwirkung, Frauen sind Männern juristisch nicht gleichgestellt, für homosexuelle Beziehungen drohen Haftstrafen. Menschenrechtsorganisationen weisen kontinuierlich darauf hin, dass die Emirate an vielen Stellen Menschenrechte missachten: Hausangestellte und Bauarbeiter etwa werden durch das Kafala-System gezwungen, ihre Ausweispapiere und ihre Entscheidungsfreiheit an die Arbeitgeber abzutreten.
War all das ein Thema in Gesprächen mit MBZ? Unklar. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire sagte vor dem Besuch , der gesteigerte Energieimport aus den Emiraten solle eine "Zwischenlösung" sein.