Waffenruhe in Nahost "Es wird zu einem neuen Clash kommen"
Israel und die palästinensischen Gebiete atmen auf. Doch ob die Waffenruhe auch langfristig trägt, ist ungewiss. Nahost-Experte Alexander Brakel sagt: Israels Politik ist gescheitert, ein kleiner Funke kann neue Gewalt auslösen.
Israel und die palästinensischen Gebiete atmen auf. Doch ob die Waffenruhe auch langfristig trägt, ist ungewiss. Nahost-Experte Alexander Brakel sagt: Israels Politik ist gescheitert, ein kleiner Funke kann neue Gewalt auslösen.
tagesschau.de: Wie erleben Sie die Stimmung in Jerusalem nach der Einigung auf eine Waffenruhe?
Alexander Brakel: Jerusalem war vom Kriegsgeschehen - abgesehen von einem Raketenalarm - nicht betroffen. Deshalb ist die Erleichterung vielen Leuten zwar anzusehen, aber es ist sicher kein Vergleich zu dem Aufatmen in Tel Aviv oder in den Ortschaften in der unmittelbaren Nähe zum Gazastreifen.
Militärische Erfolge - auch eine Frage der Deutung
tagesschau.de: Lässt sich jetzt schon feststellen, ob eine Seite gestärkt aus der Auseinandersetzung der vergangenen Tage herausgeht?
Brakel: Dafür ist es noch zu früh. Es war von Anfang an klar, dass es keinen klaren militärischen Sieger in dieser Auseinandersetzung geben würde. Die Hamas ist der israelischen Armee weit unterlegen. Und seitens Israel war klar, dass es nicht das Ziel war, die Hamas vernichtend zu schlagen. Das hätte die Bereitschaft verlangt, Bodentruppen einzusetzen und immense zivile Opfer in Kauf zu nehmen. Weder die eine noch die andere Bereitschaft war vorhanden. Es hängt nun davon ab, wie die jeweiligen Bevölkerungen den Waffenstillstand werten, und von der weiteren Entwicklung.
Die Hamas hat einige symbolisch wichtige Erfolge errungen: Es ist ihr gelungen, teilweise das israelische Raketenabwehrsystem "Iron Dome" zu überwinden - immerhin rund zehn Prozent ihrer Raketen sind durchgekommen. Mit ihnen hat die Hamas auch das israelische Kernland erreicht und damit bei der israelischen Bevölkerung erhebliche Verunsicherung ausgelöst. Das kann sie als Erfolg verbuchen. Israel hat wichtige Teile der Hamas-Infrastruktur zerstört und Hamas-Kämpfer getötet. Hier ist noch unklar, welcher Interpretation sich die Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten anschließen wird.
Israel hat den Waffengang mit dem Ziel geführt, die Hamas von ähnlichen Aktionen langfristig abzuschrecken und die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu stutzen. Wenn die Waffenruhe einige Jahre hält, dann zeigt das, dass Israels dieses Ziel erreicht hat. Sollte die Hamas schon zum Beispiel in einem Jahr erneut angreifen, wird das auch den Erfolg im jetzt zu Ende gegangenen Waffengang relativieren.
Hamas und Netanyahu profitieren
tagesschau.de: Der Konflikt hatte auf beiden Seiten eine innenpolitische Dimension - den innerpalästinensischen Machtkampf auf der einen und die Suche nach einer neuen Regierungsmehrheit in Israel auf der anderen. Wie hat sich der Waffengang hier ausgewirkt?
Brakel: Die Hamas hat die abgesagten Wahlen in den palästinensischen Gebieten auf eine für sie typische Weise genutzt, um ihren Führungsanspruch deutlich zu machen - mit Angriffen auf Israel. In dieser Auseinandersetzung mit Israel hat die palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas keine Rolle gespielt. Für ihn wird es noch schwieriger sein, Autorität zurückzugewinnen - wahrscheinlich wird es ihm nicht gelingen.
Auf israelischer Seite gab es vor dem Waffengang die leichte Hoffnung, dass eine Regierung ohne Premierminister Benjamin Netanyahu gebildet werden könnte. Dazu wäre aber die Einbeziehung mindestens einer der arabischen Parteien erforderlich gewesen wäre. Diese Hoffnung scheint zerstoben. Der Krieg hat auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen israelischen Palästinensern und jüdischen Israelis im israelischen Kernland geführt. Das hat sehr viel Vertrauen zunichte gemacht.
Eine der radikalen rechten Parteien des Anti-Netanyahu-Lagers hat erklärt, dass sie nicht bereit sei, nun einer Koalition mit arabischen Parteien beizutreten. Und die arabischen Parteien können sich nicht mehr vorstellen, einer Koalition mit sehr rechten Parteien beizutreten. Da Netanyahu aber auch keine Mehrheit hat, sind die fünften Neuwahlen innerhalb von zweieinhalb Jahren deutlich wahrscheinlicher geworden.
Nur verwalten funktioniert nicht mehr
tagesschau.de: Für wie tragfähig halten Sie die Waffenruhe? Entscheidende Fragen bleiben ja ungelöst wie der Streit um Ost-Jerusalem.
Brakel: Der Keim kommender Auseinandersetzungen liegt in dem weiterhin ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikt. Der Streit um das Viertel Sheikh Jarrah bleibt einer von vielen Bausteinen in diesem Konflikt. Der Krieg hat gezeigt, dass die israelische Politik der vergangenen Jahre gescheitert ist.
Netanyahu hat bislang die Ansicht vertreten, der Konflikt könne nicht gelöst, sondern nur verwaltet werden. Das hat eine Zeit lang funktioniert. Aber es zeigt sich, dass ein kleiner Funke ausreicht, um wieder Gewalt auszulösen. Und so ein Funke kann aus jedem der zahlreichen Konfliktfelder kommen. Die Waffenruhe ist kein Friedensvertrag und löst keine Probleme, die Lage in palästinensischen Gebieten bleibt unruhig - über kurz oder lang wird es erneut zu einem heftigen Clash kommen.
Keine Mehrheit für echten Friedensprozess
tagesschau.de: Und wird dieses Verwalten des Konflikts von der Bevölkerung unterstützt?
Brakel: Es gibt momentan keine Mehrheit für einen echten Friedensprozess, der die Bereitschaft signifikanter territorialer Zugeständnisse an die Palästinenser beinhaltet oder die Bereitschaft, den Palästinensern in den besetzten Gebieten die israelische Staatsangehörigkeit zu geben. Im Gegenteil: Es gibt eine Mehrheit gegen den Friedensprozess, es gibt eine Mehrheit gegen territoriale Zugeständnisse an die Palästinenser. Das wird sich auch nach Netanyahus Weggang nicht ändern. Im Gegenteil: Es ist wahrscheinlich, dass es dann einen weiteren Rechtsruck in der israelischen Politik geben wird. Momentan ist Netanyahu Bremser bei vielen Herzensangelegenheiten der israelischen Rechten, vor allem beim Ausbau der Siedlungen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de