Libanon und der Gaza-Krieg Wie lange hält sich die Hisbollah zurück?
Israel habe bei seinem Kampf gegen die Hamas eine "rote Linie" überschritten, zürnt der Iran. Was bedeuten solche Aussagen für die vom Iran gestützte Hisbollah im Libanon? In der libanesischen Bevölkerung wächst die Sorge.
Vorne weg rollen die Lautsprecherwagen mit den Einpeitschern, dahinter junge Männer mit gelbgrünen Fahnen, dann folgt der schwarze Block der tief verschleierten Frauen, die Portraitfotos der Schuhada - der sogenannten Märtyrer - tragen. Es sind die übliche Rituale, mit denen die schiitische Hisbollah in Krisenzeiten Kampfbereitschaft signalisiert.
Doch im Vergleich zu den Hundertausenden, die am Wochenende etwa im türkischen Istanbul protestierten, bleibt die große Massenmobilisation im Libanon aus. 2.000 bis 3.000 Hisbollah-Anhänger werden im Schnitt zusammengetrommelt, mehr nicht.
Verschleierte Frauen bei einer Demo in Beirut, die Portraitfotos sogenannter Märtyrer tragen.
Die Libanesen wissen zu gut, was ein neuer Krieg mit Israel für sie bedeutet. Im Juli 2006 hatte er den Süden des Landes und die südlichen Stadtviertel Beiruts verwüstet. Nun, mitten in der größten Wirtschaftskrise der libanesischen Geschichte, nach der Hafenexplosion, nach Corona, droht Ähnliches.
"Wenn es losgeht, lasse ich alles stehen und liegen und laufe weg", sagt Hussein. "Ich habe den Krieg 2006 erlebt, das brauche ich nicht noch mal." Er steht hinter der geschlossenen Tür seines Kleiderladens, während die Hisbollah-Demonstranten daran vorbei ziehen.
Hisbollah als iranische "Distanzwaffe"
Das ist das Unerträgliche in diesen Tagen. Nicht zu wissen, was kommt. Fluggesellschaften stellen ihre Flüge nach Beirut ein, Botschaften evakuieren Familienangehörige und Personal. Selten wurde den Libanesen so klar, dass sie und ihr Land nichts weiter als strategische Manövriermasse sind. Der Gaza-Krieg hat das Potential, die gesamte Region ins Chaos zu stürzen. Aber es gibt keine handlungsfähige Regierung im Libanon, nur eine provisorische, die gerade erklärt hat, sie habe für den Ernstfall einen Notstandsplan entworfen. Weitere Details nannte sie nicht, vermutlich gibt es auch keine.
Was mit dem Libanon geschieht, wird nicht in Beirut entschieden, sondern in Teheran. Der Iran hat die Hisbollah Anfang der 1980er-Jahre gegründet, um sie bei Bedarf als Distanzwaffe gegen Israel einsetzen zu können. Er rüstete sie hoch und baute sie zur stärksten militärischen und politischen Kraft auf.
Am Wochenende erklärte Irans Präsident Ebrahim Raisi, Israel habe nun eine "rote Linie" überschritten. Aber was heißt das? "Feuer frei" für die Hisbollah, die angeblich über mehr als 100.000 Raketen verfügt?
Hamas setzt auf die totale Eskalation
Razi Hamid, hochrangiges Mitglied im Politbüro der Hamas, gehört für Israels Regierung erklärtermaßen zu den "Dead man walking" - zu denen, die eigentlich schon so gut wie tot sind. In Beirut hatte Hamid allerdings gerade erst einen großen öffentlichen Auftritt, als er bei einer Pressekonferenz die Hisbollah hochleben ließ: "Wir schätzen sehr den Beitrag und die Hilfe der Hisbollah im Südlibanon", sagte er. "Wir wollen, dass der Kampf an möglichst allen Fronten geführt wird."
Nichts käme ihm gelegener als die totale Eskalation. Ein Zweifrontenkrieg würde die Hamas in Gaza entlasten. Hamid ist für die EU und die USA ein eiskalt kalkulierender Terrorist. In den Medien und Netzwerken der arabisch-islamischen Welt hingegen werden seinesgleichen derzeit gefeiert. Für Hamid kann es gar nicht genug Demonstranten geben, die "Tod Israel, Tod Amerika" brüllen.
Nasrallah-Rede mit Spannung erwartet
"Wenn uns Sayad Hassan den Befehl gibt, dann werden wir alle freudig in die Schlacht und ins Märtyrium ziehen", sagt ein junger Hisbollah-Milizionär. Sayad Hassan, so nennen sie Scheich Hassan Nasrallah, den obersten Führer, die unantastbare Autorität der Hisbollah. Seine Anhänger warten und warten darauf, dass er endlich eine seine mehrstündigen Reden hält und ihnen allen erklärt, was demnächst im Namen Allahs zu tun sei.
Aber der Scheich hat sich seit dem 7. Oktober noch nicht öffentlich geäußert. Nun soll er am kommenden Freitag zu seinen Anhängern sprechen. Was Nasrallah sagen wird, könnte womöglich über die Zukunft des Landes entscheiden. Hisbollah werde nicht zulassen, dass Gaza zerstört wird, sagen derweil die Demonstranten. Hisbollah werde in den Kampf ziehen, "so wie sie es immer getan hat".
Menschen wollen keinen Krieg
Noch ist nicht viel geschehen, abgesehen vom täglichen ritualisierten Schlagabtausch an der libanesisch-israelischen Grenze. Vom pathostriefenden Eifer ihrer Milizionäre hat sich die Hisbollah-Führung bislang nicht mitreißen lassen.
Sie scheint eher den Druck und die Anspannung einer Gesellschaft zu spüren, die zwar tief gespalten in rivalisierende Konfessionen und Clans ist, die aber in einem einig ist: Sie will keinen Krieg. Der Libanon hat genug davon. Die Menschen hier können nicht mehr.