110.000 Flüchtlinge aus Rafah Notlage hat "noch nie dagewesenes Ausmaß" erreicht
Immer mehr Palästinenser fliehen vor der israelischen Armee aus Rafah - Helfer berichten von dramatischen Zuständen: Krankenhäuser müssten schließen, die Straßen aus der Stadt seien verstopft. Israel meldet derweil militärische Erfolge.
Rund 110.000 Menschen sind laut den Vereinten Nationen aus Rafah im Süden des Gazastreifens geflohen, seit die israelische Armee dort vorrückt. "Menschen, die schon vertrieben wurden, werden erneut vertrieben", sagt der Planungsdirektor des Palästinenserhilfswerks UNRWA, Sam Rose, gegenüber CNN. Sie würden ins westliche Rafah weiterziehen oder woanders hin, aber auch dort sei es gefährlich. Rund 1,4 Millionen Menschen halten sich derzeit insgesamt in Rafah auf.
Die Straßen Richtung Norden sind laut Hamish Young, Nothilfekoordinator des UN-Kinderhilfswerks Unicef, verstopft. Das von Israel als Sicherheitszone ausgewiesene Gebiet Al-Mawasi nahe der Küste sei völlig überfüllt. "Die Menschen haben Angst, sind hilflos und leben unter entwürdigenden Bedingungen", sagt Rose. Young erzählt, Familien buddelten Löcher neben ihren Zelten in den Boden, um ihre Notdurft zu verrichten.
Medizinische Anlaufstellen teilweise geschlossen
Die medizinische Versorgung ist laut Hilfsorganisationen teilweise bereits zusammengebrochen oder steht vor dem Aus. 10 von 34 medizinische Anlaufstellen der UNRWA in Rafah seien gezwungen gewesen zu schließen, die drei Gesundheitszentren würden unter nur mit geringer Kapazität arbeiten können.
Fünf Krankenhäuser, 17 kleinere Kliniken, fünf Feldlazarette, zehn mobile Ärzteteams und 28 Krankenwagen müssten innerhalb von 24 Stunden ihre Dienste einstellen, wenn nicht dringend benötigter neuer Treibstoff geliefert wird, sagte der Vertreter des UN-Nothilfebüros OCHA, Georgios Petropoulos. "Die Notlage im Gazastreifen hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht."
Es fehlt an Benzin für Generatoren
Er arbeite seit fast 30 Jahren bei humanitären Großeinsätzen, sagt Young von Unicef. "Und ich war noch nie in eine so verheerende, komplexe und unberechenbare Situation involviert wie diese." Über die Grenzübergänge Rafah und Kerem Schalom kommen laut Petropoulos seit Tagen praktisch keine Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen, vor allem kein Benzin.
Ohne das seien aber die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen nicht mehr zu befriedigen. Krankenhäuser oder Trinkwasseraufbereitung brauchten Benzin für Generatoren. Die Müllabfuhr sei teilweise eingestellt worden, ebenso die Abwasserentsorgung in bestimmten Gebieten.
Ein Lager für vertriebene Palästinenser in Rafah.
Israelische Luftwaffe bombardierte rund 40 Ziele
Die israelische Armee meldet derweil militärische Erfolge. Sie teilte mit, die Truppen seien weiterhin im Osten der Stadt Rafah sowie in Al-Saitun im mittleren Abschnitt des Gazastreifens im Einsatz, wo sie "mehrere Terroristen ausgeschaltet und Terror-Infrastruktur zerstört" hätten. In Rafah habe die Armee mehrere Tunneleingänge aufgespürt. Bei Gefechten auf der palästinensischen Seite des Rafah-Übergangs nach Ägypten seien "mehrere Terrorzellen ausgeschaltet" worden.
Karte des Gazastreifen, graue Flächen: bebaute Flächen im Gazastreifen, schraffiert: von der israelischen Armee kontrollierte Gebiete
Die israelische Luftwaffe hat laut Regierungsinformationen binnen 24 Stunden rund 40 Ziele im Gazastreifen angegriffen, darunter mehrere Gebiete in Rafah, von denen aus in den vergangenen Tagen Raketen und Mörsergranaten auf Israel abgefeuert worden seien. Ziel war auch der Grenzübergang Kerem Schalom.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Israel will notfalls allein weiterkämpfen
Israels westliche Partner, allen voran die USA, haben die israelische Regierung wegen der erwarteten dramatischen humanitären Folgen eindringlich vor einem groß angelegten Militäreinsatz in Rafah gewarnt. Trotz der Waffenstopp-Drohung der USA hat die israelische Armee ihren Militäreinsatz in Rafah im südlichen Gazastreifen fortgesetzt.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte zuvor betont, dass sein Land notfalls auch allein weiterkämpfen werde. Er will die islamistische Hamas nach den Massakern in Israel am 7. Oktober vollständig zerstören, deren führende Köpfe es in Tunneln unter Rafah vermutet, wo zu deren Schutz vermutlich auch israelische Geiseln festgehalten werden.