In Bekusi (Timor-Leste) warten Menschen neben einer geplatzten Wasserleitung darauf, Kanister füllen zu können.
interview

Timor-Lestes Präsident "Auch die internationalen Partner versagen"

Stand: 30.06.2024 13:11 Uhr

Im ARD-Interview äußert sich der Präsident von Timor-Leste, Ramos-Horta, zum Zustand seines jungen Landes. Er spricht von Fortschritten, räumt aber Fehler bei der Versorgung der Bevölkerung ein. Scharfe Kritik äußert er an Hilfsorganisationen.

ARD: Timor-Leste hat gerade 22 Jahre Unabhängigkeit gefeiert. Der Kampf dahin hat ungefähr genauso lange gedauert. Sind Sie zufrieden, wo das Land heute steht?

José Ramos-Horta: Ich würde sagen, wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Wir haben uns bemerkenswert gut geschlagen, wenn man bedenkt, wo wir angefangen haben. 2002 war unser Land komplett zerstört. Wir waren am Nullpunkt bei Wirtschaft, Politik, Institutionen. Wenn ich mir anschaue, wo wir heute stehen, dann ist das weit besser als viele Länder, die schon 40 oder 50 Jahre unabhängig sind - in Bezug auf Lebenserwartung und andere soziale und wirtschaftliche Indikatoren.

Aber natürlich hätten wir vieles besser machen können. Vor allem in Bezug auf die Beseitigung extremer Armut, die Unterernährung von Kindern, die Bekämpfung von Tuberkulose, Lungenkrankheiten und anderer Gesundheitsprobleme. Aber wir können nicht in allen Bereichen erfolgreich sein. Bei einigen haben wir versagt.

José Ramos-Horta
Zur Person

José Manuel Ramos-Horta ist Präsident von Timor-Leste. Für seinen friedlichen Kampf für die Unabhängigkeit seines Landes und ein Ende der indonesischen Besatzung wurde er 1996 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nachdem Timor-Leste 1999 zunächst unter die Verwaltung der Vereinten Nationen kam, wurde Ramos-Horta Mitglied der Übergangsregierung. Nach der Unabhängigkeit 2002 wurde er 2006 Premierminister und 2007 Staatspräsident. 2022 wurde er erneut für eine zweite Amtsperiode zum Staatspräsidenten gewählt.

Die richtigen Prioritäten

ARD: Woran liegt das und wie wollen Sie diese Punkte jetzt angehen? Sie waren immerhin bereits Außenminister, Premierminister und sind jetzt erneut Präsident des Landes.

Ramos-Horta: Wir hätten vieles besser machen können, wenn wir die Prioritäten richtig definiert hätten. Wenn man die Prioritäten richtig definiert, bedeutet das, dass die absolute Priorität die Versorgung der Kinder hat: die Beseitigung der Unterentwicklung, der Unterernährung von Kindern, die Gesundheit der Mütter. Darein hätten wir Geld stecken sollen.

Das beziehe ich nicht nur auf uns, sondern auch auf unsere internationalen Partner. Wir haben so viele internationale Partner, die angeblich eine Menge Geld in Timor-Leste investiert haben, aber auch sie versagen.

"So viel Geld für Studien"

ARD: Bis heute sind viele internationale Organisationen und Institutionen im Land. Es gibt immer wieder Kontroversen, inwiefern internationale Hilfsgelder langfristig helfen oder schaden. Wie sehen Sie das, wenn Sie auf Ihr Land schauen?

Ramos-Horta: Es wäre hilfreich, wenn sie mehr Geld direkt für die Menschen in den Gemeinden ausgeben würden. Stattdessen geben sie so viel Geld und Zeit für Studien aus, um die Ursachen der Armut zu ergründen. Wir wissen alles über die Ursachen der Armut.

Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Mittel, vielleicht nicht mehr als 30 Prozent, wird direkt im Land investiert. 70 Prozent werden für die hohen Gehälter des internationalen Personals und für Berater verwendet, für zahlreiche Studien und Berichte, für die Reisen der Berater und so weiter und so fort. Das ist, was in der ganzen Welt seit dem Beginn der sogenannten ODA, der Overseas Development Assistance Strategie, vor 50 Jahren falsch läuft.

Es sind also nicht nur wir, die versagt haben, und wir sind immer bereit zu sagen, dass wir versagt haben. Aber ich habe noch nie gehört, dass eine UN-Agentur, ein Geberland, ein Partnerland gesagt hätte, wir haben versagt. Sie nehmen gerne die Lorbeeren für Dinge entgegen, die wir selbst getan haben, nicht sie, aber sie sind nie bereit, die Schuld für Versäumnisse zu übernehmen. 

Karte mit Timor-Leste

Wann der Nobelpreis wichtig ist

ARD: Sie haben 1996 den Friedensnobelpreis bekommen. Sie wurden dafür ausgezeichnet, dass Sie sich friedlich für die Unabhängigkeit ihrer Heimat von Indonesien eingesetzt haben. Was bedeutet Ihnen dieser Preis bis heute?

Ramos-Horta: Der Friedensnobelpreis an sich ist eine Anerkennung, er gibt eine Bühne, aber es kommt auf den Preisträger an. Wenn derjenige, etwa ich oder irgendeine andere Person, ein guter Vermittler ist, der hart arbeitet, aber auch inspirierend ist. Und wenn man in der Lage ist, seine Botschaft wortgewandt zu formulieren und die Menschen zu erreichen, dann ist der Friedensnobelpreis wichtig. Ansonsten bekommt man den Preis, das Geld und geht in den Ruhestand.

Jose Ramos-Horta (Mitte) blickt suchend nach der Medaille, die er bei der Verleihung des Friedensnoblepreises 1996 aus dem Etui verlor, während der Vorsitzende des norwegischen Nobelpreiskomitees, Francis Sejersted (links) herbei eilt, um sie aufzulesen - rechts Bischof Carlos Belo aus Ost-Timor.

Ein kurioser Mement bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 1996. Die Medaille für Ramos-Horta (Mitte) fiel aus dem Etui. Der Vorsitzende des norwegischen Nobelpreiskomitees, Francis Sejersted, eilte herbei, um sie aufzulesen. Der weitere Preisträger aus Timor-Leste, Bischof Carlos Belo, schaut interessiert zu.

Eine Fähre aus Deutschland

ARD: Sie waren mehrmals zu Besuch in Deutschland. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Zeit dort?

Ramos-Horta: Ich kenne Deutschland sehr gut. Ich war unzählige Male in Deutschland, so wie fast in ganz Europa. Deutschland hat viele konkrete, praktische Dinge getan, um Timor-Leste zu unterstützen, zum Beispiel im Bereich der Schifffahrt. Als ich Außenminister war, zu Beginn der Unabhängigkeit, bin ich nach Bonn gefahren. Die Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war Heidemarie Wieczorek-Zeul von der SPD, eine sehr gute Frau. Ich bat sie, ohne irgendwelche Papiere, ohne Vorbereitung: Bitte geben Sie uns eine Fähre. Sie war überrascht, weil sie kein Dokument, keinen Brief, keine Studie darüber erhalten hatte. Aber dann ein paar Minuten später, als ich schon weg war, rief sie mich in ihr Büro zurück. Sie sagte: "Wir werden es tun. Wir werden Ihnen die Fähre geben. Drei oder vier Jahre später hatten wir eine Fähre namens Berlin Nakroma. Deutschland war sehr praktisch ausgerichtet und wenn sie etwas versprochen haben, hielten sie es auch."

Im Juli 2018 habe ich Angela Merkel in ihrem Büro in Berlin getroffen. Ich habe sie sogar mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, hat das Komitee sie nicht berücksichtigt. Ich habe großen Respekt für Merkel. Sie hat für den Erhalt des Friedens in Europa gesorgt. Ohne Ihre Entscheidung, Millionen Flüchtlinge ins Land zu lassen, wäre es katastrophal in Europa geworden.

Viele Herausforderungen

ARD: Was wollen Sie in Ihren letzten drei Jahren im Amt noch erreichen?

Ramos-Horta: Wir haben viele ernste Herausforderungen: die Bekämpfung der Armut, wir brauchen mehr gut ausgebildete Menschen in der Regierung, der Verwaltung, im Parlament. Unser Flughafen ist viel zu klein, da hätten wir schon vor zehn Jahren investieren sollen. Wir wollen ASEAN-Mitglied werden. Da gibt es mehr als 1.000 Treffen im Jahr auf den verschiedenen Ebenen. Das zwingt uns, härter zu arbeiten, schneller zu arbeiten. Andernfalls wird Timor untergehen.

Ich hoffe, dass ich die Regierung beeinflussen kann, mehr für Kinder zu tun, um die Unterernährung zu beseitigen, mehr für schwangere Frauen, damit sie gesunde Babys zur Welt bringen können. Wir können mehr für die Landwirtschaft tun, damit wir nicht mehr so viel importieren. Und gleichzeitig sollten wir unser Justizsystem verbessern, die Verwaltung, die Regularien, so dass es für Investoren attraktiver ist, zu kommen. Wir brauchen ausländische Direktinvestitionen in Timor-Leste und eine schnelle Schaffung von vielen Arbeitsplätzen.

Ich habe nur noch drei Jahre als Präsident. Und ich habe nicht die Absicht, noch einmal als Präsident zu kandidieren. Die Herausforderungen liegen dann bei der sogenannten neuen Generation.

Das Gespräch führte Jennifer Johnston, ARD Südostasien