Russische Straflager "Die meisten Menschen werden gebrochen"
Russische Straflager gelten als Erbe der berüchtigten Gulags. Die Inhaftierten leben und arbeiten dort unter miserablen Bedingungen, abseits jedweder Zivilisation - nun auch Kremlkritiker Alexej Nawalny.
In Russland gibt es verschiedene Straflager-Kategorien: Sie reichen von Lager-Siedlungen bis hin zu Sonderkolonien. Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist zu einer Haftstrafe von rund zweieinhalb Jahren in einem allgemeinen Straflager verurteilt worden. Diese gehören nicht zur schlimmsten Kategorie, sind aber dennoch ein Erbe der berüchtigten Gulags.
Die Lager sind oft nur schwer erreichbar. Sie liegen meist abseits jedweder Zivilisation. Und sie hätten, sagt Pjotr Kurjanow, mit der zivilisierten Welt auch nichts gemein. "Man muss selbst gesehen haben, unter welchen Bedingungen Menschen dort über Jahre gehalten werden", sagt Kurjanow, der sich für die Rechte von Häftlingen engagiert. "Du verlierst nach und nach den Verstand."
Die Baracken sind das Schlimmste
Pjotr Kurjanow weiß, wovon er spricht. Er war selbst mehrfach inhaftiert. Und die Zeit in den Lagern hat sichtbare Spuren hinterlassen. Das Schlimmste, sagt er, seien nicht die Mauern, der Stacheldraht oder die Wachtürme. Das Schlimmste seien die in die Jahre gekommenen Baracken, in denen die Häftlinge leben müssen. Immer zusammen, nie allein.
Das sind Schlafsäle mit Dutzenden Doppelstockbetten, erzählt Olga Romanowa. Sie hat eine Organisation zur Unterstützung von Häftlingen gegründet. Dusche, Toilette, alles ist offen einsehbar in den Lagern. Der ganze Waschraum. Dabei ist es schon gut, wenn es überhaupt eine Dusche gibt, sagt Romanowa. Wenn nicht, dann gibt es nur Waschbecken.
Keine Privatsphäre und viel Gewalt
Es fehle jede Privatsphäre, sagt Pjotr Kurjanow. Physische und psychische Gewalt seien an der Tagesordnung. Unter den Häftlingen, aber auch das Wachpersonal würde leicht Gründe finden, jemanden abzustrafen. Ein offener Knopf genüge schon, oder ein angeblich ausgebliebener Gruß. Ein systematischer Albtraum: 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche. Und das über Jahre.
"Die meisten Menschen werden von diesem System, dem Erbe des Gulags, gebrochen", sagt Pjotr Kurjanow. Und Olga Romanowa erklärt: Am Tagesablauf habe sich in all den Jahrzehnten wenig geändert. Wecken um 6.00 Uhr am Morgen, mit lauter Musik. Dann Betten richten und waschen. Morgenappell. Frühsport, bei jedem Wetter. "Dann werden alle zum Frühstück geführt", sagt Olga Romanowa. "Es gibt ein Stück Brot mit Margarine und Brei, nichts davon hat gute Qualität." Umgerechnet 80 Cent pro Tag und Häftling würde für Essen ausgeben, sagt die Menschenrechtlerin.
Nur zwei Stunden Freizeit
Nach dem Essen gehe es geschlossen in den Arbeitsbereich des Lagers: ans Fließband oder in die Näherei. Ein kurzes, schnelles Mittagessen folgt: "Das Geschirr aus Aluminium. Keine Gabel. Kein Messer. Alles wird mit Alu-Löffeln gegessen. Wer ein Brot oder eine Serviette in die Tasche steckt, riskiert Isolationshaft", sagt Olga Romanowa. Und das bedeutet: Tage, Wochen oder Monate in einer kalten Einzelzelle, in der das Bett tagsüber weggeklappt wird und in der es keinerlei Beschäftigung gibt.
Gearbeitet wird in der Regel bis zum Abendessen. Vor der Bettruhe um 22 Uhr bleiben ein, zwei Stunden freie Zeit. Meist gibt es eine Bibliothek, einen Klub und einen Gemeinschaftsraum mit Fernseher, in dem die staatlichen Kanäle zu empfangen sind.
Schwierige Besuche
Besuche von Anwälten sind kompliziert, sagt Romanowa, aber möglich. "Schwieriger ist es für die Angehörigen. Sie haben das Recht auf einen Besuch im Monat. Ein Gespräch per Telefon, getrennt durch Glasscheiben, für maximal vier Stunden", erklärt sie. Alle drei Monate hätten die Inhaftierten theoretisch das Recht, Besuch für bis zu drei Tage zu bekommen. Aber die dafür vorgesehenen Zimmer seien rar und hart umkämpft. Die Lagerleitung nutze sie als Druckmittel.
Angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit, die Nawalny nach sich ziehe, werde sich das Wachpersonal vermutlich auch in Sachen Gewalt zurückhalten, meint Olga Romanowa. Trotzdem sei es einfach, in einem russischen Lager zu sterben: "Dort fällt er entweder die Treppe herunter oder er lässt sich auf einen Konflikt mit einem Kriminellen ein und wird erstochen. Das ist weit verbreitet", sagt sie.