Mustafa zeigt Riss in Häuserwand.
weltspiegel

Ein Jahr nach Erdbeben "Der Riss geht durch die ganze Mauer"

Stand: 04.02.2024 03:51 Uhr

Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben leben in der Türkei immer noch Hunderttausende in Notunterkünften - obwohl die Behörden sie drängen, wieder in ihre maroden Häuser zu ziehen.

"Nemo lebt immer noch in seinem ersten Haus", sagt Bünyamin und wirft seinem Goldfisch einige Krümmel Fischfutter ins kleine Aquarium. Der 9-Jährige lebt seit einem Jahr mit seiner Familie in einer Notunterkunft. Seinen geliebten Nemo konnte er retten, als die Familie in der Nacht auf den 6. Februar 2023 fluchtartig ihre Kellerwohnung verließ, während die Erde fast eine Minute lang bebte.

Bünyamin lebt mit seinem älteren Bruder Hüseyn und seinen Eltern in einem Containerdorf mitten in der Hafenstadt Iskenderun im Süden der Türkei. Doch die Behörden möchten nun, dass sie zurück in ihr altes Haus ziehen: die Schäden seien nicht schlimm.

Für Bünyamin eine schreckliche Vorstellung. Er hat Angst, dass es wieder ein Erdbeben geben könnte und das Haus diesmal in sich zusammenfällt, wie so viele Gebäude vor einem Jahr. "Wenn wir im Keller sind, dann gibt es keine Überlebenschance", erzählt er ernst. "Das ganze Haus wird auf uns fallen, deswegen ist es hier im Container gut für uns."

Erdogan eröffnet neue Siedlungen

Seine Mama Mehpare teilt die Sorgen ihres Sohnes. Seit Monaten schreibt sie die Behörden an oder versucht sich persönlich Gehör zu verschaffen, dass sie mit ihrer Familie nicht mehr in ihre alte Wohnung zurückkann: "Sobald ich das Haus betrete, kommt alles wieder zurück. Wir waren ein paar Mal tagsüber da, um etwas herauszuholen", erzählt die zierliche Frau. "Wir sind schnell rein und wieder raus. Wenn sie uns jetzt sagen, wir müssen hier weg, dann würde ich im Park ein Zelt aufbauen, statt ins Haus zu gehen."

Noch immer leben rund eine halbe Million Menschen in der betroffenen Region in Lagern, weil sie - wie die Familie - Angst haben, zurück in ein Haus zu ziehen oder weil ihres zerstört oder schwer beschädigt wurde. Noch immer sind viele Menschen auf Unterstützung angewiesen, oft organisiert über private Spenden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte drei Tage nach dem Erdbeben angekündigt, innerhalb eines Jahres den Wiederaufbau stemmen zu wollen. Jetzt, kurz vor dem Jahrestag, tourt Erdogan durch die Region und eröffnet die ersten neuen Siedlungen.

Eine Frau läuft im Februar 2023 entlang zerstörter Häuseir in Hatay (Türkei)

Das Erdbeben zeigte einmal mehr, wie marode viele Häuser in der Türkei waren. Das macht auch heute noch vielen Menschen große Sorgen.

Die historische Stadt einfach abreißen?

So auch in Antakya, der Stadt, die am schlimmsten getroffen wurde und in der sich noch heute ein schreckliches Bild der Zerstörung zeigt. 20.000 Wohnungen sollen in der gesamten Provinz laut Regierungsvertretern fertiggestellt sein, doch ein Vielfaches wird benötigt. Damit sei es aber längst nicht getan, sagt Buse Ceren Gül, eine der Architektinnen, die am Wiederaufbau mitarbeitet: "Ich denke, zehn Jahre wird es dauern, bis es wieder einen Ort gibt, den wir Antakya nennen können", meint sie. Sie kommt selbst aus der historischen Stadt, die fast komplett dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Aber alles abreißen und etwas Neues hinstellen, das würde die Geschichte der Stadt auslöschen. "Bei uns in Antakya gab es Moscheen, Kirchen, Synagogen, zum Teil in einer Straße", beschreibt Buse ihre Heimatstadt. Es war ein Ort, an dem verschiedene Menschen zusammenlebten. Und das ist mein großes Ziel: dieses Zusammenleben wieder zu schaffen."

Buse verlor selbst ihre Großmutter und ihre Tante unter den Trümmern und hinterfragt seitdem ihre ganze Baubranche: "Natürlich kann ein Gebäude beschädigt werden, vielleicht auch schwer. Aber das hätte nicht zum Tod von so vielen Menschen führen dürfen." Baupfusch, aber auch schwere Fehler in der Bauaufsicht hätten die Katastrophe mitverursacht.

Bauamnestien für illegale Bauten

Vor Gericht stehen bisher aber nur Privatpersonen, keine staatlichen Vertreter. Der Bausektor ist die wichtigste Stütze der türkischen Wirtschaft und damit auch von Präsident Erdogan. Über die Jahre ist dieser Sektor unkontrolliert gewachsen, sagen Beobachter.

Bauunternehmer mit engen Verbindungen in die höchsten Kreise der Politik: Das ist keine Seltenheit. Hinzu kommt ein Wildwuchs von Schwarzbauten im ganzen Land, strukturell gefördert von der Politik durch sogenannte Bauamnestien. Die gab es auch schon vor der Erdogan-Regierung. Sie legalisierten im Nachhinein illegal gebaute Häuser oder Zusatzetagen, oft vor Wahlen, um dadurch Stimmen zu gewinnen, zuletzt 2018.

Die Familie des 9-jährigen Bünyamin hat auch deswegen Misstrauen gegenüber der Bausubstanz ihres Wohnhauses, einem Mehrfamilienhaus am Rande von Iskenderun. In der Außenwand sind seit dem Erdbeben große Risse zu sehen, sie wurden mit etwas Zement überspachtelt.

Bünyamins Vater Mustafa steht davor und schüttelt den Kopf. "Die ganzen Risse hier, die außen schon überstrichen wurden, die kann man in unserer Wohnung noch sehen. Der Riss hier geht durch die ganze Mauer." Staatliche Gutachter hätten vor kurzem ihren Bericht abgeschlossen: Das Haus sei nicht beschädigt und damit bewohnbar.

Riss in einer Häuserwand.

Keine Schäden? Die Risse in der Mauer des Hauses der Familie von Mustafa, Mehpare, Bünyamin und Hüseyn sprechen eine andere Sprache.

Eine marode Wohnung zum Verkauf

Einige der Nachbarn in den oberen Stockwerken seien daraufhin wieder eingezogen. Bünyamin und seine Familie können sich das nach wie vor nicht vorstellen. Warum, wird beim Betreten der Kellerwohnung noch deutlicher: überall große Risse, teils meterlang. Inwiefern tragende Säulen beschädigt wurden, weiß die Familie nicht, aber das Misstrauen und das Trauma überwiegen. "Angst, einfach nur Angst fühle ich hier", sagt Bünyamin leise, während seinen Eltern die Tränen in die Augen schießen.

Erst kurz vor dem Erdbeben hatten sie die Drei-Zimmer-Wohnung abbezahlt, nun wollen sie sie verkaufen. "Ich habe hier nichts renovieren lassen", erklärt Mustafa. "Wenn ich das an jemanden verkaufe, muss ich es reinen Gewissens tun. Die Person muss das alles gesehen haben."

Ob sie die Wohnung losbekommen, ist fraglich. Mustafa aber glaubt: Es gibt genug Menschen, die sie kaufen würden, alles oberflächlich renovieren und sie dann weitervermieten.

Die Familie möchte Iskenderun gerne verlassen - noch sucht der Vater nach einem Job. Zuviel erinnere sie hier ans Beben, auch die Abrissarbeiten, sagt Bünyamins Mutter Mehpare. "Und auch die Nachbeben haben kein Ende, sie lassen uns das alles nicht vergessen."

Diese Reportage sehen Sie am Sonntag, 4.02.2024 um 18:30 im Weltspiegel im Ersten.

Uwe Lueb, ARD Istanbul, zzt. Antakya, tagesschau, 31.01.2024 06:09 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 04. Februar 2024 um 08:36 Uhr.