Istanbul-Konvention Türkei tritt aus Frauenschutz-Abkommen aus
Diskutiert wurde über die Istanbul-Konvention schon länger, trotzdem kam die Entscheidung nun überraschend. Mit sofortiger Wirkung verlässt die Türkei das internationale Abkommen zum Schutz der Frauen vor Gewalt.
"Zieh Deine Entscheidung zurück und halte Dich an den Vertrag", fordert Fidan Ataselim von der Plattform gegen Frauenmorde vom türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem Internet-Video. Frauenrechtlerinnen posten auf Twitter, sie hätten die Nacht nicht schlafen können. Denn jetzt müssten Frauen noch mehr um ihr Leben fürchten.
Mehr als 300 Frauen sind vergangenes Jahr in der Türkei ermordet worden, heißt es auf der Plattform - viele von ihnen von ihren Ehemännern, Ex-Partnern, Brüdern oder anderen Männern aus dem nahen Umfeld.
Das hatte schon am Internationalen Frauentag vor knapp zwei Wochen viele auf die Straße gebracht, so wie die 50-jährige Sema in Istanbul: "Es wurden so viele Frauen von Männern umgebracht, vor allem in den vergangenen zwei Jahren. Darum müssen wir uns verteidigen. Wir treffen unsere Entscheidungen, leben unser Leben, das ist unsere Straße und unser Recht."
Organisationen riefen zu landesweiten Protesten auf
Sie fordern Freiheit: Am Frauentag in diesem Jahr waren die Demonstrationen seit langem zum ersten Mal wieder friedlich verlaufen. Frauenorganisationen hatten auch für heute zu Protesten im ganzen Land aufgerufen - gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention.
"Sie können Millionen von Frauen nicht ignorieren, sie zu Hause einsperren, einfach aus dem Straßenbild löschen. Sie können Millionen von Frauen nicht zum Schweigen bringen," sagt die Aktivistin Ataselim.
Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen von häuslicher Gewalt - etwa Vergewaltigung in der Ehe - als Verbrechen einzustufen und entsprechend zu bestrafen. Außerdem sollen Gewaltopfer spezielle Schutzeinrichtungen, beispielsweise Frauenhäuser, sowie psychologische und soziale Beratung angeboten bekommen. Als "Gewalt" gilt laut Abkommen nicht nur physische Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierung, Einschüchterung oder wirtschaftliche Ausbeutung.
Erdogan: "Die Frau ist vor allem Mutter"
Konservative Politiker hatten schon länger darauf gedrängt, aus der Istanbul-Konvention von 2011 auszusteigen. Sie sahen die traditionellen Familienstrukturen in Gefahr. Auch Präsident Erdogan scheint die Frauen lieber am Herd als auf der Straße oder im Büro sehen zu wollen.
Am Internationalen Frauentag am 8. März sagte er: "Die Frau ist vor allem Mutter und die allererste Heimat des Kindes." Edogan verspricht allerdings auch immer wieder, gegen Gewalt an Frauen vorzugehen. Beispielsweise gibt es eine App, über die Frauen die Polizei direkt alarmieren können. Sie wurde bereits hunderttausende Male heruntergeladen.
Mehr Gewalt während der Pandemie
Gülsüm Kav von einer Plattform gegen Femizide berichtet, dass Frauen vor allem seit der Corona-Pandemie immer mehr Gewalt Zuhause aushalten müssen: "Ausgerechnet im Pandemiejahr schnürt man uns die Luft zum Atmen ab, anstatt uns etwas mehr Luft zu verschaffen. Sie beschließen etwas, wodurch wir noch mehr Schutz verlieren. Das können wir niemals akzeptieren."
Die Täter würden oft gar nicht oder zu milde bestraft, kritisieren Aktivistinnen. Das Signal an sie könnte fatal sein. Familienministerin Selcuk hält auf Twitter dagegen. Das Justizsystem der Türkei sei stark genug, um Frauen vor Gewalt zu schützen.
Die Aktivistin Nursen Inal ist wütend über den Schritt der Türkei: "Wir haben seit Jahren dafür gekämpft, dass die Istanbul-Konvention angewandt wird. Wenn man das gemacht hätte, würden heute Tausende Frauen noch am Leben sein." Jede türkische Frau sei sich dessen bewusst. "Deshalb kämpfen sie mit uns für die Konvention, weil sie wissen, dass sie ihr Leben schützt. Darum werden wir auch niemals aufgeben."