Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien
Interview

Krieg um Bergkarabach "Niemand versucht, sie aufzuhalten"

Stand: 07.11.2020 13:57 Uhr

Seit fast fünf Wochen tobt der Krieg um Bergkarabach. Armeniens Premier Paschinjan sieht sein Land im Kampf gegen zwei Nachbarstaaten allein gelassen. Russische Friedenstruppen nennt er eine praktikable Lösung.

tagesschau.de: Herr Paschinjan, als Sie den friedlichen Machtwechsel mit Ihrer demokratischen Protestbewegung im Jahr 2018 herbeiführten, hielten Sie es da für möglich, dass zwei Jahre später ein Krieg ausbrechen würde?

Nikol Paschinjan: Als Parlamentsabgeordneter sagte ich etwa 2016 oder 2017 voraus, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Weil Krieg das Ziel Aserbaidschans ist, es war schon immer das Ziel Aserbaidschans. Es war nicht zu gegenseitigen Zugeständnissen bereit, um die Karabach-Frage zu lösen.

Dies wird am besten durch den "Kasan-Prozess" von 2011 deutlich. Damals stimmte die armenische Seit zu, fünf aserbaidschanische Bezirke herzugeben im Gegenzug für einen Interimsstatus für Bergkarabach. Dies sollte später durch ein Referendum konkretisiert werden. Das war ein bedeutendes Zugeständnis der armenischen Seite. Denn es beinhaltete eine große Unsicherheit für die Armenier in Bergkarabach.

Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien
Zur Person
Nikol Paschinjan wurde 2018 international bekannt als Anführer eines friedlichen Machtwechsels in Armenien. Der gelernte Journalist war zuvor jahrelang Oppositionspolitiker und saß als politischer Gefangener im Gefängnis. Als Premierminister versprach er, Armenien zu reformieren und von Korruption zu befreien.

Aserbaidschan weigerte sich, die Dokumente zu unterzeichnen. Dies ist nicht nur eine Episode. Es handelt sich um eine Methodik: Etwas, das für Armenien und Karabach als Ergebnis des Bemühens um ein gegenseitiges Zugeständnis akzeptabel wird, wird umgehend inakzeptabel für Aserbaidschan.

Im Juli 2020 gab es an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan eine Provokation, in deren Folge Aserbaidschan verstand, dass seine Streitkräfte die Karabach-Frage nicht lösen können. Deshalb war es gezwungen, die Hilfe von Söldnern und Terroristen zu erbitten.

Was sie dann ab August eine militärische Übung nannten, war in Wirklichkeit ein Prozess, unter Kontrolle der Türkei Söldner und Terroristen aus syrischen Gebieten nach Aserbaidschan zu bringen. Viel türkische Militärausrüstung und türkische Militärexperten wurden nach Aserbaidschan entsandt. Sie unternahmen gemeinsam den Angriff auf Bergkarabach.

Silvia Stöber im Gespräch mit Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien.

Paschinjan geht davon aus, dass Aserbaidschan den Konflikt durch Krieg lösen will.

tagesschau.de: Anders als Ihre beiden Vorgänger an der Spitze Armeniens stammen Sie nicht aus Bergkarabach. Haben Sie deshalb starke Aussagen wie "Karabach ist Armenien" verwendet, die in Aserbaidschan als Provokation empfunden wurden?

Paschinjan: Diese Aussage ist mit der Karabach-Frage verbunden. Leider hat die internationale Gemeinschaft das Wesen der Karabach-Frage aus dem Blick verloren. Als sie 1988 während der Perestroika von Michail Gorbatschow aufkam, wurde sie als eine Manifestation der Demokratisierung in der Sowjetunion verstanden. Diese führte auch zum Fall der Berliner Mauer.

Die Karabach-Armenier, die stets mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des autonomen Bezirks Bergkarabach ausmachten, nutzten die durch die Demokratisierung gebotenen Möglichkeiten, um ihre verletzten Rechte in einem absolut friedlichen Prozess wiederherzustellen.

Allgemein könnten einige Länder die Existenz der Armenier an sich als eine Provokation sehen, einschließlich der Türkei, wo im Osmanischen Reich 1915 der Völkermord an den Armeniern begangen wurde. Riesige armenische Gebiete wurden durch den Völkermord von Armeniern gesäubert. Meine Einschätzung ist, dass die Türkei 100 Jahre später in den Südkaukasus zurückgekehrt ist, um diese Operation fortzusetzen.

Das ist eine Manifestation der expansionistischen, imperialistischen Politik der Türkei, denn die Armenier im Südkaukasus sind das letzte Hindernis auf dem Weg der Expansion der Türkei nach Norden, Osten und Südosten. Ich sehe dies im Zusammenhang mit der Politik, die die Türkei im Mittelmeerraum, in Syrien, im Irak, in den Beziehungen zu Griechenland und Zypern verfolgt. Und im Lichte der Tatsache, dass die Türkei bestimmte Aktionen in Europa fördert.

Verständnis für Russlands zurückhaltende Position

tagesschau.de: Sie stehen regelmäßig in Kontakt mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Welche konkrete Unterstützung erwarten Sie von Russland?

Paschinjan: Was wir an Unterstützung erwarten, erhalten wir. Wir haben keine Bedenken hinsichtlich der Qualität der Erfüllung der Partnerschaftsverpflichtungen durch Russland.

Andererseits haben wir Verständnis dafür, dass Russland zunächst einmal ein Co-Vorsitzender der Minsker Gruppe der OSZE ist, die in der Bergkarabach-Frage eine gewisse Neutralitätsverpflichtung hat. Außerdem hat Russland gute Beziehungen zu Aserbaidschan. Das ist keine wirklich einfache Situation.

Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien

Paschinjan hob hervor, dass Russland als Co-Chef der Minsker Gruppe eine gewisse Neutralitätsverpflichtung habe.

tagesschau.de: Wie ist es mit russischen Friedenstruppen in Bergkarabach?

Paschinjan: Der Einsatz russischer Friedenstruppen ist für uns akzeptabel. Für uns ist es nicht nur eine politische, sondern auch praktische Frage. Friedenstruppen müssen schnell eingesetzt werden und Russland ist in der Region präsent. Russland kennt diese Region auch hinsichtlich der sprachlichen Kommunikation, der Denkweise und solcher Feinheiten.

tagesschau.de: Aserbaidschan hingegen will türkische Friedenstruppen.

Paschinjan: Die Türkei ist praktisch schon präsent als ein Land, das Söldner und Terroristen in diese Region bringt. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Land mit dieser Rolle zu irgendeinem Friedensprozess beitragen könnte, insbesondere zu einem friedenserhaltenden oder friedensschaffenden Prozess.

"Keine internationale Reaktion"

tagesschau.de: Wie erklären Sie den Beschuss von Städten in Aserbaidschan wie Gandja und den Einsatz von Streumunition in Barda?

Paschinjan: Lassen Sie mich mit einigen Fakten beginnen. Wenn es in aserbaidschanischen Städten Explosionen gibt, bringt die Regierung in Baku die dort akkreditierten Botschafter und Journalisten zum Schauplatz. Aber kein diplomatischer Vertreter war je in Stepanakert, Martuni, Martakert, Askeran oder den Dörfern in Bergkarabach. Die Städte sind zur Hälfte zerstört. Die internationalen Journalisten haben es sehr schwer, dorthin zu kommen. Die anhaltende Bombardierung der Städte in Bergkarabach hat keine internationale Reaktion ausgelöst. Niemand hat auch nur versucht, sie aufzuhalten.

Die Verteidigungsarmee von Bergkarabach, die auch legitime militärische Ziele in einigen Städten oder in der Nähe einiger Städte hat, hat mit Beschuss reagiert.

tagesschau.de: Aber warum wurde die Stadt Barda mit Streumunition bombardiert? "Human Rights Watch" hat Belege dafür vorgelegt.

Paschinjan: Wurden in Stepanerkert keine Menschen getötet?

tagesschau.de: Ich möchte Sie jetzt zu Gandja und Barda fragen.

Paschinjan: Wozu soll es gut sein, Zivilisten zu töten? Wir müssen also nur erklären, warum Zivilisten getötet werden? Wenn Sie mit der Erklärung für die Zivilisten in Stepanakert, Martakert und Martuni zufrieden sind, dann ist die Erklärung die gleiche. Es macht keinen Unterschied, wo Zivilisten sterben. Wenn Sie mit der Erklärung zufrieden sind, ich bin es zum Beispiel nicht.

tagesschau.de: Zivilisten sterben auf beiden Seiten. Sollte dem nicht Einhalt geboten werden?

Paschinjan: Niemand argumentiert dagegen. Zumindest in Bergkarabach und Armenien tut das niemand. Aber sehen wir uns die Statistiken an und schauen wir uns die Chronologie an.

tagesschau.de: Zuletzt sprachen Sie mit Aserbaidschans Präsident Alijew auf der Sicherheitskonferenz in München. Was sind Ihre Bedingungen für ernsthafte Verhandlungen mit Aserbaidschan?

Paschinjan: Unter den Bedingungen des Krieges ist es normal, über Verhandlungen zu sprechen, aber es ist nicht realistisch. Die Bedingungen für Verhandlungen wurden in der Moskauer Erklärung vom 10. Oktober diskutiert und vereinbart, die später noch einmal bekräftigt wurde. Die Moskauer Erklärung wurde unter Vermittlung des russischen Präsidenten verabschiedet. Es folgten die Wiederholungen unter Vermittlung der Präsidenten Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Und dort gibt es einen klaren Plan, und man hat sich im Wesentlichen darauf geeinigt.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de.

Die Originalversion des Interviews wurde für die deutsche Fassung gekürzt. Die Langfassung in der englischen Übersetzung finden Sie hier.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 26. Oktober 2020 um 23:37 Uhr.