Nach dem Referendum Brexit - jetzt doch nicht mehr so eilig?
Nach der Entscheidung für den Brexit hat es die britische Regierung offenbar doch nicht so eilig mit dem EU-Austritt. So sagte Brexit-Frontmann Johnson, es gebe keinen Grund zur Hast. EU-Spitzenvertreter drängen jedoch, jetzt konsequent zu sein.
Die Entscheidung der Bevölkerung für den Austritt Großbritanniens aus der EU - doch Eile bei der Umsetzung scheint die britische Regierung nicht zu haben.
"Es gibt keine Notwendigkeit für einen genauen Zeitplan", sagte Premierminister David Cameron, der am Vormittag seinen Rücktritt für Oktober angekündigt hatte. "Eine Verhandlung mit der Europäischen Union wird unter einem neuen Premierminister beginnen müssen", betonte Cameron. Er hatte 2013 zwar das Referendum Cameron unter dem Druck des europaskeptischen Flügels seiner konservativen Partei angesetzt, sich selbst aber in der Kampagne vehement für den EU-Verbleib ausgesprochen.
Aber auch Camerons möglicher Nachfolger und Brexit-Frontmann, Boris Johnson, hat es nun nicht eilig: "Es gibt keinen Grund zur Hast", sagte Johnson. Auch plädierte er dafür, Europa nicht den Rücken zuzukehren: "Wir sind im Herzen Europas."
Er sehe auch keine Notwendigkeit, von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages Gebrauch zu machen, so Johnson. Gemäß dieser Regelung muss Großbritannien das Austrittsgesuch in Brüssel anmelden. Dann müssten die Austrittsverhandlungen binnen zwei Jahren beendet sein. Ansonsten würde Großbritannien automatisch aus der Union ausscheiden.
Brüssel fordert Konsequenz
EU-Spitzenvertreter drängen jedoch zur Eile bei den Austrittsverhandlungen: "Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern", erklärten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Parlamentschef Martin Schulz sowie der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte eine schnelle und zivilisierte "Scheidung".
Am Rande des EU-Gipfels am Dienstag und Mittwoch in Brüssel soll es bereits ein "informelles Treffen" der 27 geben - erstmals ohne Großbritannien.
"Höchstwahrscheinlich" neues Referendum in Schottland
Auch im eigenen Land steht Cameron unter Handlungsdruck. Brexit-Befürworter und Ukip-Chef Nigel Farage fordert: "Wir brauchen nun eine Brexit-Regierung".
Farage allerdings distanzierte sich inzwischen von einem zentralen Versprechen der Brexit-Kampagne. In der ITV-Sendung "Good Morning Britain" sagte der UKIP-Politiker, er könne nicht garantieren, dass wie von den Brexit-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS gingen. "Das war einer der Fehler, die die 'Leave'-Kampagne gemacht hat", sagte Farage.
Der EU attestierte er allerdings, sie liege im Sterben: "Wir haben eine scheiternde politische Union zurückgelassen."
So ungewiss die Zukunft der EU derzeit sein mag, auch dem Vereinigten Königreich stehen unruhige Zeiten bevor. Schottland will den Weg zum Brexit nicht mitgehen und strebt ein neues Unabhängigkeitsreferendum an. "Schottland hat klar und entschieden für den EU-Verbleib gestimmt, mit 62 zu 38 Prozent. Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich", sagte die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon.
Die schottische Regierungspartei SNP war 2014 mit einem ersten Versuch, die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erreichen, knapp gescheitert. Einem neuen Anlauf werden nach dem Brexit bessere Chancen eingeräumt. Eine Loslösung von London soll den Wiedereintritt in die EU ermöglichen.
Schottland gehört mit Wales, Nordirland und England zum Vereinigten Königreich und ist traditionell proeuropäisch. Auch in Nordirland wurden auf Seiten katholisch-irischer Nationalisten Rufe nach einer Abspaltung von Großbritannien und dem Verbleib in der EU laut. Die Bevölkerungsmehrheit dort stellen aber Protestanten, die Teil Großbritanniens bleiben wollen.
Knapp 52 Prozent für Austritt
Nach mehr als 40 Jahren wollen die Briten als erstes Land überhaupt die Europäische Union verlassen. Eine Mehrheit von rund 52 Prozent der Stimmen sprach sich für den Brexit aus. Insgesamt votierten 17.410.742 Wähler beim EU-Referendum für den Brexit, 16.141.241 fürs Drinbleiben, wie die Vorsitzende der Wahlkommission, Jenny Watson, in Manchester bekannt gab.
In vielen Wahlkreisen und Regionen schnitten die Befürworter eines EU-Ausstiegs stärker ab als die Meinungsforscher vorhergesagt hatten. Birmingham etwa, die zweitgrößte britische Stadt, stimmte knapp für den Brexit. Und auch in anderen Teilen Nord-Englands, traditionell eine Hochburg der pro-europäischen Labour-Partei, ließen sich deren Wähler offenbar von der Aussicht auf einen Brexit locken.
Die Europäische Gemeinschaft mit bisher 28 Staaten wird damit in die schwerste Krise ihrer Geschichte gestürzt. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien könnten aber weitaus schwerwiegender sein.