Flüchtlingspolitik Erdogan droht - Chios bangt
Schon jetzt sind die Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Chios überfüllt, die Zustände unwürdig - immer wieder gibt es Randale. Aber was passiert, wenn die Türkei das Flüchtlingsabkommen tatsächlich kündigt? Das mag sich niemand vorstellen.
Es ist ein bisschen so wie mit dem Kaninchen, das auf die Schlange starrt. Die griechische Insel Chios liegt nur sieben Kilometer vom türkischen Festland entfernt. Schon seit Beginn des europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens ist sie mit den Flüchtlingen überfordert, die hier leben.
Der stellvertretende Bürgermeister von Chios-Stadt, Giorgos Karamanis sieht deshalb mit Sorge auf den großen Nachbarn Türkei: "Ja, natürlich hören wir diese Drohung und wir machen uns Gedanken, wie wir damit umgehen können, sollte Erdogan ernst machen“, sagt er. Im schlimmsten Fall, also wenn es keine Lösung mit der Türkei gebe, müsse es eine EU-Unterstützung geben, um diese Krise zu überstehen. "Diese Insel hat 50.000 Einwohner. Da ist es klar, dass wir nicht Tausende Flüchtlinge unterstützen können. Letztendlich kann Chios nur eine Art Transitzone sein. Diese Aufgabe werden wir wohl oder übel übernehmen müssen“, meint er.
In Panik gerät Karamanis aber nicht - wohlwissend, dass er und seine Verwaltung am türkisch-europäischen Verhältnis nichts ändern können. Dabei ist die Situation in den beiden Flüchtlingslagern schon heute kritisch.
Das Lager Souda liegt mitten in der Innenstadt. Es wurde improvisiert errichtet.
50 Prozent mehr Flüchtlinge als eigentlich möglich
Theoretisch können auf Chios 1500 Flüchtlinge beherbergt werden. Zurzeit sind es nach Informationen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR jedoch 2200. Sowohl der offizielle Hotspot Viale als auch das improvisierte Lager Souda mitten in der Stadt seien überfüllt, sagt die lokale UNHCR-Koordinatorin Barabara Colzi. Und in den vergangenen zwei Wochen seien wieder mehr Flüchtlinge über die Türkei gekommen - deswegen reichten die Unterkünfte nicht mehr aus. "Wir mussten die Neuankömmlinge auch im Camp Viale in Zelten statt in Containern unterbringen, das konnten wir dort bisher vermeiden."
Vor allem im innerstädtischen Zeltlager Souda klagen die Flüchtlinge über miese Lebensbedingungen, vor allem jetzt, wo es viel regnet und die Temperaturen nachts auf fünf Grad sinken.
"Es kümmert sich niemand um uns, es gibt zu wenige Decken, fast kein Licht und in den Duschen nur kaltes Wasser. Außerdem dringt Regenwasser in das Zelt", sagt Anaz aus Syrien, der in Souda campiert. Und Chamdeylabah erzählt, wie in das Zelt, in dem sie mit ihrer sechsjährigen Tochter lebt, eine Ratte gekommen sei.
Immer wieder Randale
Die grenzwertigen Lebensbedingungen haben in den vergangenen Wochen zu Spannungen sowohl unter den Flüchtlingen selbst als auch mit der einheimischen Bevölkerung geführt. Wiederholt gab es Ausschreitungen, die darin gipfelten, dass Container abbrannten und Einheimische Steine auf die Flüchtlingszelte warfen.
Flüchtlinge, die es sich leisten können, entgehen den miesen Lebensbedingungen im Lager, indem sie im Hotel wohnen, so wie der 25-jährige Mazen: "Es gibt zu viele Probleme im Camp, die Ausstattung reicht nicht für so viele Leute, das Essen ist schlecht - wie soll ich es sagen - es ist dort einfach nicht menschenwürdig, so bringt man vielleicht Tiere unter."
Das Idyll täuscht: Die hygienischen Bedingungen in den Lagern sind ein großes Problem.
"Erdogan wird seine Drohung nicht wahrmachen"
Der junge Syrer ist bei Theodoros Spordilis untergekommen. Der Gastronom hat sein Hotel am Hafen von Chios gerne für Flüchtlinge geöffnet. Für diejenigen, die zahlen können und auch für einige andere. Angesprochen auf die Türkei und Erdogans Drohgebärden bleibt Spordilis gelassen: "Ich glaube nicht, dass er seine Drohung wahrmachen wird. Ich denke, er wird verhandeln.“ Außerdem sei es fraglich, ob die Flüchtlinge unter diesen Umständen überhaupt nach Chios kommen wollten. Davon abgesehen stehe der Winter bevor, und die Überfahrt sei dann besonders gefährlich.
Und wenn Erdogan seine Drohung dann doch wahrmache, müsse die EU dafür sorgen, dass mehr Wasser und Nahrungsmittel auf die Insel kommen und neue Camps bauen.“Aber wir wollen ja, dass es besser wird und nicht schlechter. Aber das ist natürlich nur ein Wunsch“, sagt der Inselbewohner.