Interview

Interview zum Staatsbesuch in Berlin "Erdogan demontiert sich selbst"

Stand: 04.02.2014 04:30 Uhr

Im Korruptionsskandal in der Türkei greift Ministerpräsident Erdogan hart durch. Durch seinen autokratischen Stil macht er seine bisherigen Erfolge zunichte, meint der Journalist Baha Güngör im tagesschau.de-Interview. Trotzdem könne er mit weiteren Wahlsiegen rechnen.

tagesschau.de: Vor wenigen Tagen hat die Regierung erneut mehr als 500 Polizisten, Staatsanwälte und Richter zwangsversetzt. Insgesamt sind es tausende Beamte, die von ihren Ämtern entbunden wurden - wird Erdogan zum Autokraten?

Baha Güngör: Es sieht in der Tat so aus, dass er zu den Mitteln eines Diktators greift. Er fühlt sich anscheinend unfehlbar und die absoluten Mehrheiten bei den letzten drei Parlamentswahlen haben ihn in dieser Auffassung bestätigt. Doch er ist schon längst nicht mehr der Held der Demokratie, für den ihn die Europäer lange Jahre hielten. Erdogan hat ein krudes Rechtsstaatsverständnis und er ist im Moment dabei, sich selbst zu demontieren.

Zur Person
Baha Güngör kam vor mehr als 50 Jahren nach Deutschland. 1976 wurde er als erster Türke in Deutschland in deutscher Sprache zum Journalisten ausgebildet, in einem Volontariat bei der Kölnischen Rundschau. Später ging er als Türkeikorrespondent für WAZ und dpa für 15 Jahre nach Istanbul zurück. Er ist Autor des Buches "Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU" und Träger des deutsch-türkischen Freundschaftspreises. Heute leitet er die türkische Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

tagesschau.de: Immer mehr Parlamentsabgeordnete verlassen die Regierungspartei AKP, teilweise werden parteiinterne Kritiker ausgeschlossen - droht dadurch die Regierung zu stürzen?

Güngör: Nein, dazu ist die Mehrheit der AKP zu komfortabel. Ich glaube, dass Erdogan sich nach den landesweiten Kommunalwahlen im März neu aufstellen und seine Strategie festlegen wird. Wenn seine Partei bei den Wahlen ein gutes Ergebnis erzielt, könnte er vorgezogene Parlamentswahlen beschließen, um die Opposition so endgültig in die Knie zu zwingen.

Reinhard Baumgarten, R. Baumgarten, ARD Istanbul, 07.01.2014 12:52 Uhr

Keine Alternative zu Erdogan

tagesschau.de: Wie steht die türkische Bevölkerung zu diesen massiven Eingriffen in die Justiz und die Sicherheitsbehörden?

Güngör: Teile der Bevölkerung, vor allem in den Städten, haben sich von ihm abgewandt. Trotzdem kann er weiterhin mit Mehrheiten rechnen. Vielleicht nicht mehr mit absoluten, doch er wird die Kommunalwahlen wohl deutlich gewinnen. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat er den Türken in den letzten Jahren einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung beschert und ihnen so das Gefühl gegeben, als Nation wieder Bedeutung zu haben. Zum zweiten gibt es schlichtweg keine Alternative zu Erdogan. Die Opposition hat einfach keinen charismatischen Politiker, der ihm gefährlich werden könnte.

tagesschau.de: Erdogan hat sich und seine Regierung stets als Neuanfang, als Abkehr vom alten, allmächtigen Staat inszeniert. Verfällt er mit seinem Handeln nun doch in alte Muster?

Güngör: Die Türkei hat in den letzten Jahren eine lange Phase der Stabilität und des Aufschwungs erlebt. Gleichzeitig hat Erdogan die alten Eliten in vielen Prozessen, wie dem Ergenekon-Prozess, mundtot gemacht. Der Vorwurf lautete stets, sie hätten einen Putsch geplant. Doch jetzt verhält er sich selbst kein bisschen anders als seine Vorgänger. Er hätte sich ein Denkmal setzen können, doch das hat er in den letzten Monaten zunichte gemacht.

Neues Internetgesetz gefährdet Meinungsfreiheit

tagesschau.de: Die Regierung in Ankara hat auch ein neues Internetgesetz auf den Weg gebracht. Danach können Webseiten ohne Gerichtsbeschluss gesperrt werden, vorgeblich zum Schutz der Persönlichkeitsrechte. Was steckt dahinter und warum erlässt Erdogan es genau jetzt?

Güngör: Erdogan schwankt zwischen Diktator und Musterdemokrat, und hier zeigt sich wieder seine repressive Seite. Er will ganz einfach die Kritik von Seiten der Opposition unterbinden. Dieses Gesetz bedeutet, wenn es denn verabschiedet würde, einen großen Rückschritt für die Demokratie in der Türkei, denn die freie Meinungsäußerung würde empfindlich eingeschränkt.

"EU-Beitrittsverhandlungen fortsetzen"

tagesschau.de: Wie sollten Deutschland und Europa auf diese Vorgänge reagieren?

Güngör: Ich glaube, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fortsetzen sollten. Man könnte dabei die aktuellen Probleme ansprechen und so möglicherweise zu einer Lösung kommen. Denn die Türkei will nach Europa, und das gibt der EU eine gewisse Verhandlungsmacht.

Das würde zudem die Demokraten in der Türkei stärken. Wenn wir die Verhandlungen dagegen abbrechen würden, wie es Konservative in Deutschland und Europa fordern, verprellen wir damit die demokratischen Kräfte in der Türkei.

"Der wirtschaftliche Aufschwung ist stark gefährdet"

tagesschau.de: Auch wirtschaftlich hat die Türkei derzeit große Probleme. Die Lira hat in den letzten Wochen dramatisch an Wert verloren - wird die Erhöhung des Leitzinses diesen Verfall stoppen können?

Güngör: Das ist ein Versuch, doch ob das Wirkung zeigt wird sich erst noch zeigen. Denn im schlimmsten Fall ziehen ausländische Investoren ihr Kapital ab, und das würde die Wirtschaft erst recht gefährden. Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem Erdogan bisher politisch profitiert hat, ist im Moment ganz stark gefährdet.

tagesschau.de: Bei seinem Staatsbesuch in Berlin will Erdogan auch Werbung machen für die Präsidentschaftswahl. Wie ist die Stimmung unter den Türken in Deutschland?

Güngör: Die Türken in Deutschland sind traditionell sehr konservativ eingestellt. Deshalb sieht er hierzulande ein großes Potenzial, seine Mehrheit zu stärken. Bisher mussten Türken immer in die Türkei reisen, um ihre Stimme abgeben zu können. Geplant ist nun, dass sie ihre Stimmen hier in den Konsulaten abgeben können. Das würde für Erdogan sicherlich einen Stimmengewinn bedeuten.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de