EU-Gipfel zu Finanzen Spitz auf Knopf
Ab heute geht es in Brüssel ums Ganze - nämlich den EU-Haushalt und die milliardenschweren Corona-Hilfen. Dass es viel Streit gibt, ist jetzt schon klar. tagesschau.de erklärt, wer mit welchen Forderungen in die Verhandlungen geht.
Zum letzten EU-Gipfel Ende Februar war Mark Rutte mit einer Biografie des Komponisten Frédéric Chopin unter dem Arm erschienen. Deutlicher hätte der niederländische Ministerpräsident kaum zeigen können, dass er bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre keinen Anlass für übertriebene Eile sieht. "Ich lasse mich nicht unter Druck setzen", sollte das wohl heißen. Rutte gehört zu den Wortführern der selbsternannten "Sparsamen Vier". Gemeinsam mit Schweden, Dänemark und Österreich wollen die Niederlande die Ausgaben der Europäischen Union nicht nur begrenzen, sondern kürzen.
Das geplante 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm für die Zeit nach der Corona-Krise sehen die "Sparsamen Vier" ebenfalls kritisch. Vor allem deshalb, weil ein Großteil des Geldes als Zuschüsse in die besonders von der Pandemie betroffenen Länder wie Italien oder Spanien fließen soll und nicht zurückgezahlt werden müsste. Das haben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen. Das Geld soll sich die EU-Kommission an den Kapitalmärkten ausleihen, damit würde die EU erstmals eigene Schulden aufnehmen.
Angela Merkel und Emanuel Macron wollen für die von Corona besonders betroffenen Staaten viel Geld in die Hand nehmen.
Für die Bundesregierung ist das eine bemerkenswerte Kehrtwende. Bisher hatte sich Deutschland immer gegen gemeinsame europäische Schulden gewehrt und im Schulterschluss mit den "Sparsamen Vier" auf Haushaltsdisziplin gepocht. Angesichts der enormen wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Krise ist davon nun keine Rede mehr. Stattdessen heißt jetzt die Devise: "Nur, wenn es Europa gut geht, geht es auch Deutschland gut." Ganz offensichtlich hat sich in Berlin die kühle Erkenntnis durchgesetzt, dass der Mitgliedsstaat mit der stärksten Wirtschaft der EU den anderen helfen muss - und zwar auch, um den eigenen Wohlstand zu sichern.
Kredite statt Geldgeschenke
Die "Sparsamen Vier" sehen das anders. Sie halten den vorgesehenen Geldtopf für viel zu groß und haben im Mai einen eigenen Vorschlag für den Weg aus der Krise präsentiert. Ihr Gegenentwurf zum deutsch-französischen Plan sieht vor, die Wirtschaft in Europa ausschließlich mit günstigen Krediten wieder in Schwung zu bringen. Die Nothilfe soll einmalig und auf zwei Jahre befristet sein, das Geld müsste von den Empfängerländern später zurückgezahlt werden. "Unangemessen und viel zu defensiv", findet das die italienische Regierung. Es darf keine "Schuldenunion durch die Hintertür" geben, sagt dagegen Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Insgesamt aber klingt der christdemokratische Regierungschef aus Wien in letzter Zeit deutlich konzilianter. Vielleicht auch deshalb, weil sein Koalitionspartner anderer Meinung ist. Österreichs Grüne halten nämlich den Wiederaufbaufonds ausdrücklich für richtig. Auch Kurz verlangt inzwischen nur noch eine "ausgewogene Balance" zwischen reinen Krediten und Finanzspritzen, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Außerdem sollte das Geld in Zukunftsprojekte wie den digitalen Wandel oder den Klimaschutz fließen und mit kleineren Reformauflagen verbunden sein - etwa Bürokratieabbau oder Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Unüberwindliche Hindernisse sehen anders aus. Auch die Niederlande sind schließlich dafür, dass Europa die Krise gemeinsam meistert.
Einen möglichen Weg zu einem Kompromiss hat EU-Ratspräsident Charles Michel vorgezeichnet. Der Gipfel-Gastgeber ist den zahlreichen Kritikern mit einem neuen Entwurf entgegengekommen. Den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre will Michel leicht kürzen, bei den Beitragsrabatten für die Nettozahler soll es bleiben. Das dürfte nicht nur die "Sparsamen Vier" freuen, sondern auch die Bundesregierung. Bei der Verteilung der Mittel aus dem Wiederaufbauprogramm können die EU-Länder stärker mitreden als bisher vorgesehen war. 30 Prozent der Hilfsgelder sollen in den Klimaschutz fließen, was im Norden und Westen der EU auf Beifall stößt. Die sogenannten Visegrad-Staaten, also Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, fürchten dagegen um ihre Fördergelder.
Nettozahler unter sich: Der österreichische Bundeskanzler Kurz, der niederländische Ministerpräsident Rutte, sein schwedischer Amtskollege Löfven und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Februar.
Geld nur bei Rechtsstaatlichkeit?
Und dann ist da auch noch das hochsensible Thema "Rechtsstaatlichkeit". Viele EU-Länder wollen, dass Überweisungen aus Brüssel an die Einhaltung der Grundrechte geknüpft werden. Kanzlerin Merkel hat das zu einem zentralen Anliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erklärt. Der Entwurf von Ratspräsident Michel sieht vor, dass Zahlungen gekürzt werden können, wenn ein EU-Land beispielsweise die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit oder das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkt.
Entscheiden darüber sollen die Mitgliedsländer, und zwar mit einer sogenannten "qualifizierten Mehrheit". Zustimmen müssten also 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen. Eine Hürde, die viele deutlich zu hoch finden. Die Regierungen in Polen und Ungarn lehnen einen sogenannten "Rechtsstaatsmechanismus" dagegen kategorisch ab, was die Suche nach einer Lösung mindestens schwierig macht. Der EU-Haushalt muss schließlich einstimmig beschlossen werden. Das heißt: Jedes einzelne der 27 Mitgliedsländer hat faktisch ein Veto-Recht.
Dazu kommt: Auch das Europaparlament muss am Ende zustimmen, denn ohne den Segen der Abgeordneten geht in Haushaltsfragen nämlich nichts. Und bei den Parlamentariern hält sich die Begeisterung für die neuen Pläne, vorsichtig formuliert, in überschaubaren Grenzen. Angesichts der geplanten Haushaltskürzungen ist sogar von einer "Kriegserklärung" die Rede. Gefragt ist noch viel diplomatisches Geschick. Es bleiben also einige Stolpersteine, selbst dann, wenn sich die Staats- und Regierungschefs am Wochenende einigen sollten.
Der Niederländer Rutte hat die Erwartungen im Vorfeld schon einmal gedämpft und eine schnelle Lösung für wenig wahrscheinlich erklärt. Mal sehen, welches Buch er diesmal mitbringt.