Debatte um EU-Gipfelpaket Das Misstrauen im Parlament ist groß
Das 1,8-Billionen-Gipfelpaket sorgt für Diskussionen: Das EU-Parlament will vor einer Zustimmung deutliche Nachbesserungen sehen. Besonders hart dürften Parlament und Rat um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit ringen.
Es ist eine Mischung aus Stolz und Nervosität, mit der Ratspräsident Charles Michel vor dem Europäischen Parlament die Beschlüsse des EU-Marathongipfels erläutert. Stolz, weil es ihm gelungen ist, mit 27 Staats- und Regierungschefs den 1,8-Billionen-Deal zum Haushalt und zum Corona-Hilfsfonds abzuschließen. Und Nervosität, weil er weiß: Das Parlament, das am Ende dem Finanzpaket zustimmen muss, ist alles andere als begeistert. Nicht nur wegen der vorgesehenen Kürzungen in wichtigen Zukunftsaufgaben, sondern vor allem wegen des Reizthemas Rechtsstaatlichkeit.
Der Gipfelbeschluss sei eine "Etappe", beteuert Michel. Zum ersten Mal sei eine klare Verbindung, eine "Konditionalität" zwischen Rechtsstaatlichkeit und der Auszahlung von EU-Mitteln, festgeschrieben worden. Er werde dafür sorgen, verspricht der Ratspräsident, dass dieses zentrale, ungemein wichtige Thema im Zentrum der Debatte bleibe.
Vorwurf: Instrument absichtlich verwässert
Doch das Misstrauen des Parlaments ist groß. Bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien müsse kein Mitgliedsstaat ernsthaft Kürzungen fürchten, so der Vorwurf. Die Staats- und Regierungschefs hätten das Instrument absichtlich verwässert, damit auch Polen, Ungarn und andere den Gipfel-Deal mittragen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban konnte die Vereinbarungen jedenfalls als Sieg darstellen, gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Mateusz Morawiecki.
Für den SPD-Europaabgeordneten Udo Bullmann ist das nur schwer erträglich, zumal gegen beide Länder Grundrechteverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge laufen - wegen Korruption und der Verletzung von Grundfreiheiten:
Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Warschau oder in Budapest, die haben kein Preisschild, sie sind nicht käuflich, weder heute oder morgen, noch an dem Tag, an dem in diesem Haus die Abstimmung über den Mittelfristigen Finanzrahmen stattfindet!
Grundwerte im Fokus
MORE: So lautet passenderweise die Abkürzung der Resolution, die das Europaparlament inzwischen mit großer Mehrheit beschlossen hat. Darin heißt es auch: Wir wollen mehr, auch mehr Europa, in der Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit. Es müsse dringend nachgebessert werden, so die Abgeordneten, vor allem bei der Koppelung von EU-Geldern an die Einhaltung von EU-Grundwerten.
Denn: "Es besteht keinerlei Klarheit darüber, was genau diese Vereinbarung bedeuten soll", sagt Katarina Barley, die Vizepräsidentin des EU-Parlaments. Sie kritisiert den auf dem EU-Gipfel beschlossenen Mechanismus als ein schwammig formuliertes "Wünsch-Dir-Was".
Tatsächlich ist das Gipfeldokument wenig konkret. Bei möglichen Verstößen gegen rechtsstaatliche Standards, heißt es dort, könne die EU-Kommission Maßnahmen vorschlagen - die könnten dann von den Mitgliedsstaaten angenommen werden. Immerhin mit qualifizierter Mehrheit, was bedeutet: Es wäre keine Einstimmigkeit nötig. Und die bisher übliche Schützenhilfe der übrigen Visegrad-Länder - neben Polen und Ungarn auch Tschechien und die Slowakei - würde nicht ausreichen, um Strafen abzublocken.
Starkes Signal aus dem Parlament gefordert
Nur: In welchen Fällen eine solche qualifizierte Mehrheit zur Anwendung käme - dazu schweigt das Dokument. Deshalb fordert der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund einen Mechanismus, der den Namen auch verdient:
Die Mitgliedsstaaten, die eklatant gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen, die also Pressefreiheit einschränken, Gerichte drangsalieren, die Universitäten aus dem Land schmeißen, müssen sanktioniert werden können - und das muss eben am Ende auch funktionieren.
Freund ist Mitglied im Haushaltskontrollausschuss und berichtete bereits vor einigen Wochen, wie systematisch offenbar Millionen abgezweigt werden, seit Orban im zweitgrößten Netto-Empfängerland der EU-Ministerpräsident ist. Die Fälle sind in Brüssel bekannt, das EU-eigene Amt für Betrugsbekämpfung namens OLAF ermittelte schon oft. Dennoch versage die Kontrolle der EU auf ganzer Linie, sagt Freund. Umso wichtiger sei nun ein starkes Signal aus dem Parlament: "Wir dürfen hier kein weiteres Werkzeug schaffen, das am Ende nie benutzt wird oder nicht zu einer Besserung der Situation führt. Es ist noch nicht klar, dass das am Ende dabei herauskommt."
Abgeordnete stecken in einer Zwickmühle
Das Parlament muss nun mit dem Rat über das Finanzpaket verhandeln. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wie der Rechtsstaatsmechanismus geschärft werden kann. Das Problem: Das Parlament kann dieses Paket nur als Ganzes annehmen oder ablehnen. Es kann also nicht nur Teile davon absegnen.
Das weiß der Rat der Staats- und Regierungschefs genau - und deshalb stecken die Abgeordneten in einer Zwickmühle. Bewegen sie ihre rote Linie, haben sie nur laut nach Rechtsstaatlichkeit gebrüllt. Drohen sie bei den Verhandlungen mit Blockade, verzögern sie die Vergabe der dringend benötigten Hilfsmilliarden.
Der Grünen-Abgeordnete Freund will den Kompromiss, genau wegen der Rechtsstaatsfrage: "Dafür müssen am Ende eben diese Rechtsstaatsregeln eingehalten werden, damit die Hilfen auch da ankommen, wo sie ankommen sollen, sonst versickern sie in Korruption und Misswirtschaft, und landen in den Taschen von Orban und seinen Freunden. Und das kann es dann wirklich nicht sein, dass die Corona-Hilfe so endet."