EU und Türkei Tiefpunkt einer Beziehung
Menschenrechtsverletzungen, inhaftierte Journalisten, Entlassungen: Seit dem Putschversuch vor einem Jahr ist in der Türkei vieles passiert - und fast nichts, was der EU gefallen dürfte. Das Verhältnis zwischen Brüssel und Ankara ist zerrüttet.
Von Kai Küstner, ARD-Studio Brüssel
Würden die EU und die Türkei sich die Mühe machen, gemeinsam auf die vergangenen zwölf Monate ihrer Beziehung zurückzublicken - sie müssten sich ehrlicherweise eingestehen, dass ein Trümmerfeld hinter ihnen liegt. Doch die beiden brauchen einander dringend. Und so vergeht zumindest in der Europäischen Union kaum ein Tag, an dem man sich nicht den Kopf darüber zermartert, wie man mit diesem so schwierigen und doch so wichtigen Partner umgehen soll.
"In Deutschland fordern 86 Prozent der Menschen das Ende der Beitrittsverhandlungen", sagt der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff von der FDP. "Wir haben in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis als in China oder im Iran. In den Universitäten ist die akademische Freiheit mit eisernem Besen beseitigt worden. Die Justiz ist nicht mehr unabhängig." Die Türkei kann, zu diesem Schluss kommt er, so nicht Mitglied der Europäischen Union werden.
"Es ist ehrlicher, die Verhandlungen auszusetzen"
Eine Mehrheit der Abgeordneten sieht das ähnlich: Bereits Ende 2016 forderte das Parlament, die Gespräche einzufrieren. Vergangene Woche erneuerte es seine Empfehlung - für den Fall, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan die per Referendum bestätigten Verfassungsreformen eins zu eins umsetzt und damit seine Macht erheblich ausbaut. "Es ist ehrlicher, die Verhandlungen zu unterbrechen oder auszusetzen", sagt der SPD-Abgeordnete Knut Fleckenstein. "Das ist wichtig, weil es auch anderen zeigt, dass man sich entscheiden muss. Man kann nicht eine Tür zuhalten und ständig rufen 'Lasst mich rein!'"
Nun streitet auch kaum jemand ab, dass sich die Beitrittsgespräche wegen der Entwicklungen in der Türkei ohnehin derzeit in einem komatösen Zustand befinden. Nur wollen die EU-Einzelstaaten, die das letztlich zu entscheiden haben, nicht diejenigen sein, die offiziell die Beitrittspforte verriegeln. "Wir wollen nicht die Tür zuschlagen", sagte unlängst der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel. "Aber ob die Türkei durch die Tür gehen will, das muss die Türkei entscheiden."
Erdogan braucht die EU
Unübersehbar war jedenfalls im abgelaufenen Jahr, dass sich Erdogan immer mehr von der Demokratie und damit auch immer mehr von Europa entfernt. Weil aber nun mal nicht nur die EU die Türkei braucht, sondern auch die Türkei die EU, stürzt er damit nicht nur Brüssel, sondern auch sich selbst in ein Dilemma.
Der ehemalige EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini, sagte im Interview mit dem ARD-Europastudio Brüssel: "Aus Sicherheitsgründen und auch aus wirtschaftlichen braucht die Türkei die EU, die NATO und auch die USA." Aber für das politische Überleben im eigenen Land müsse Erdogan das Gegenteil dessen tun, was ein verlässlicher Partner des Westens tue. "Jedes Mal, wenn die Führung in der Türkei die nationalistische Karte spielt, hilft ihr das."
Handelserleichterungen als Druckmittel?
Die Frage lautet also: Wie kann man mit dem komplizierten, aber unerlässlichen Partner Türkei trotzdem weiter auskommen? Und die Beziehung aus dem Stimmungstief holen? Ziemlich schnell fällt dabei da Stichwort Zollunion. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, dass man über einen weiteren Abbau von Zöllen verhandeln möge, die es zum Beispiel auf Landwirtschaftsprodukte nach wie vor gibt. "Das wäre nicht nur wirtschaftlich für beide Seiten vorteilhaft", sagt die sozialdemokratische Abgeordnete Kati Piri. "Es ist vielleicht auch der einzige Hebel, den die EU noch hat, um die türkische Regierung auf europäische Standards festzulegen."
Überlegt wird in der Tat auf EU-Seite, die Einhaltung von Menschenrechten zur Bedingung für Handelserleichterungen zu machen. Noch haben die Gespräche nicht begonnen. Doch dass die Türkei hier ernsthaft an einer Vertiefung zumindest dieser Beziehung interessiert ist, liegt auf der Hand.
Auch für die NATO wird die Türkei zum Problem
Auch bei der NATO könnte man eine Stimmungsaufhellung gut gebrauchen. Schon der deutsch-türkische Krach um die Luftwaffenbasis Incirlik hatte als eine Art Kollateralschaden zu Spannungen innerhalb des Bündnisses geführt. Dass Ankara nun auch noch einen Abgeordnetenbesuch auf der Basis in Konya blockierte, wiegt noch schwerer. Handelt es sich doch hier um einen echten NATO-Stützpunkt, von dem aus die fliegenden AWACS-Radarstationen zu ihren Aufklärungsmissionen für die Koalition gegen den Islamischen Staat starten.
Aber das sind nicht die einzigen Problemthemen. Dass die Türkei als NATO-Mitglied fast die Hälfte ihrer Offiziere austauschte und zudem zuletzt mit dem Gedanken spielte, ein russisches Raketensystem anzuschaffen, sind weitere Beispiele. "In Moskau tut Präsident Putin was er nur kann, um die Türkei von der NATO zu lösen oder dem Bündnis das Leben schwer zu machen", sagt Türkei-Experte Pierini.
Für das Militärbündnis gilt also ebenso wie für die EU: Je mehr Erdogan sich von der Demokratie und damit auch von Europa verabschiedet, je mehr er sich damit auch vom Westen abwendet, umso mehr wird das zum Problem.