Fragen und Antworten zum "Vertrag von Lissabon" "Superstaat" oder mehr Demokratie für alle?
Mit dem EU-Reformvertrag, dem sogenannten "Vertrag von Lissabon" soll die Europäische Union auf eine neue Grundlage gestellt werden. Was bringt der Vertrag? Wird Deutschland an Einfluss verlieren, falls er in Kraft tritt? tagesschau.de hat Fragen und Antworten zusammengestellt.
Was ist der EU-Reformvertrag?
Der Vertrag, der die Europäische Union auf eine neue Grundlage stellen soll, wurde im vergangenen Herbst von den 27 Staats- und Regierungschefs der EU in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon unterzeichnet. Er soll 2009 in Kraft treten - zuvor müssen aber alle 27 Mitgliedsstaaten dem Vertragswerk zustimmen. Das neue Grundlagendokument, das als "Vertrag von Lissabon" in die Geschichtsbücher eingehen soll, ersetzt die gescheiterte EU-Verfassung, die im Frühjahr 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen war.
Braucht die EU den Vertrag überhaupt?
Ja, denn mit der Osterweiterung der Europäischen Union auf zunächst 24 und derzeit 27 Länder wird es immer schwieriger, mit den alten Instrumenten Entscheidungen zu treffen. Derzeit gilt nämlich in zentralen Politikbereichen der Union noch das Veto-Recht. Das heißt, ein Land kann eine Entscheidung mit seinem "Nein" blockieren, auch wenn alle anderen dafür sind. Je größer die Union wird, desto unsinniger ist ein solches Verfahren. Seit Jahren warnen Politiker und Wissenschaftler davor, dass die Union durch Selbstblockade handlungsunfähig werden könnte. Aus diesem Grund ist die Reform der Entscheidungsprozesse ein zentraler Punkt des Vertrages.
Wie sehen die neuen Entscheidungsregeln aus?
Künftig soll es nur noch in Ausnahmefällen Veto-Entscheidungen geben, die Regel sollen Mehrheitsentscheidungen werden. Um der Forderung Rechnung zu tragen, dass zum Beispiel große Länder wie Deutschland oder Frankreich gegenüber Kleinststaaten wie Malta nicht benachteiligt werden, wurde das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt. Die ist dann erreicht, wenn mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, die insgesamt 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.
Wird die EU durch den Reformvertrag mächtiger?
Sie soll vor allem effizienter werden - und das nicht nur durch geänderte Entscheidungsverfahren. Künftig soll der EU-Ratspräsident nicht wie bisher nur ein halbes Jahr amtieren, sondern vom Rat der Staats- und Regierungschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt werden. Das soll Kontinuität gewährleisten. Die Position des Ratspräsidenten wird durch die längere Amtszeit außerdem an Gewicht gewinnen. Damit die Gemeinschaft in Zukunft ein einheitlicheres Bild in der Welt abgibt, soll es eine Art Außenminister geben, den "Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Er soll einen diplomatischen Dienst bekommen und Vizepräsident der EU-Kommission werden.
Schließlich soll die Kommission verschlankt werden. Ab 2014 soll nicht mehr jedes Land einen Kommissar stellen, die Zahl wird auf zwei Drittel der EU-Staaten gesenkt. Die einzelnen Länder wechseln sich ab.
Wird die EU durch den Reformvertrag demokratischer?
Bedingt, die Macht des EU-Parlaments soll zwar gestärkt werden: Künftig muss es fast allen Entscheidungen der Union zustimmen. So soll es gleichberechtigt mit dem Rat der EU-Wirtschaftsminister über den Haushalt entscheiden. Dennoch bleibt ein erhebliches Demokratiedefizit. Denn bei allen Entscheidungen, die die Außen- und Sicherheitspolitik der Union angehen, wird das Parlament nach wie vor nicht gefragt. Und im Gegensatz zum Bundestag hat das Europäische Parlament nicht das Recht, Gesetze vorzulegen. Auch darf das EU-Parlament nicht den EU-Ratspräsidenten – den mächtigsten Mann der Gemeinschaft - wählen. Der wird von den Staats- und Regierungschefs ernannt.
Kann ein Staat aus der EU austreten?
Ja, erstmals sieht ein Vertrag auf EU-Ebene auch die Möglichkeit eines Austritts vor.
Wird Deutschland an Einfluss in der EU verlieren, wenn der neue Vertrag in Kraft tritt?
Nein, denn das oben beschriebene Prinzip der doppelten Mehrheit gewährleistet, dass auch bevölkerungsreiche Länder wie Deutschland angemessen berücksichtigt werden. Außerdem wird in einem Begleitgesetz zum EU-Reformvertrag geregelt, dass die Fraktionen des Bundestags gegen die EU-Kommission klagen können, wenn diese ihre Kompetenzen überschreiten sollte.
Was passiert nun, nachdem die Iren den Vertrag abgelehnt haben?
Das ist noch nicht klar. Das irische Nein hat die EU wieder einmal in eine schwere Krise gestürzt, und die Regierungen der EU-Staaten sind ziemlich ratlos, wie sie sie lösen sollen. Momentan ist es am wahrscheinlichsten, dass der Ratifizierungsprozess weitergeht. Vor dem irischen Nein hatten bereits 18 der 27 EU-Staaten den Vertrag ratifiziert, darunter Deutschland. Da nur Irland eine Volksabstimmung durchgeführt hat, in allen anderen Staaten aber die Parlamente entscheiden, wird damit gerechnet, dass Ende 2008 26 der 27 Länder dem Vertrag zugestimmt haben werden. Der Vertrag muss aber von allen EU-Staaten ratifiziert werden, um in Kraft zu treten. Formaljuristisch ist er tot, wenn ein Land - wie geschehen - ablehnt. Es könnte also sein, dass der Vertrag und damit die Reform der EU scheitert. Dann gilt weiter der Vertrag von Nizza mit seinen komplizierten Entscheidungsmechanismen.
Eine andere Möglichkeit wäre, den Iren Zugeständnisse zu machen und dann eine neue Volksabstimmung abzuhalten. Diskutiert wird auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, mit einem Kern von Staaten, die eine weitergehende politische Integration wollen und den anderen, die langsamer vorangehen. Wie das rechtlich und institutionell geregelt werden könnte, ist aber völlig unklar.
Zusammengestellt von Sabine Klein, tagesschau.de