Europaexperte Verheugen im Interview "Nicht unmöglich, dass sich die EU auflöst"
Es wird derzeit viel über "Europas Werte" geredet. Welche sind das und sind sie tatsächlich in Gefahr? Darüber hat tagesschau.de mit dem langjährigen Europapolitiker Günter Verheugen gesprochen. Zum ersten Mal in seinem Leben fürchtet er um die EU.
tagesschau.de: Angesichts der Flüchtlingskrise in Europa sprechen Politiker immer wieder davon, dass die europäischen Werte in Gefahr sind. Was sind das für Werte?
Günter Verheugen: Damit sind meistens Werte wie Solidarität, Mitmenschlichkeit und der Schutz der Menschenwürde gemeint. Das sind aber Begriffe, die keineswegs exklusiv europäisch sind, sondern universelle Werte. Was uns in Europa auszeichnet und was uns besonders macht, ist die Tatsache, dass wir uns feierlich verpflichtet haben, diese Werte gemeinsam zu vertreten und zu verteidigen. Ich sehe deshalb nicht die universellen Werte in Gefahr, sondern den zentralen europäischen Wert der Schicksalsgemeinschaft.
"Die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen"
tagesschau.de: Was meinen Sie damit?
Verheugen: Unsere europäische Erfahrung ist, dass wir auf unserem Kontinent nur Frieden bewahren können und ein menschenwürdiges Leben für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglichen können, wenn wir die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen. Das gelingt nur, wenn wir sicherstellen, dass wir freundschaftlich und partnerschaftlich zusammenleben.
Das Bewusstsein, dass wir nur gemeinsam in Frieden überleben können, ist in den letzten Jahren eindeutig schwächer geworden. Das ist der Grund dafür, warum wir uns so schwer tun mit all den Krisenerscheinungen, die wir zurzeit haben, fertig zu werden. Diese können wir nur gemeinsam lösen. Es ist immer wieder der gleiche Punkt: Das Bewusstsein dafür, dass wir gemeinsam füreinander einstehen müssen, dieses Bewusstsein ist zu schwach.
"Konflikte mit gewisser Rücksichtslosigkeit"
tagesschau.de: Woran liegt das?
Verheugen: Es gibt eine Reihe von Gründen. Seit Jahren tritt das gemeinschaftliche europäische Interesse hinter der Wahrnehmung nationaler Interessen zurück. Wir beobachten, dass Konflikte zwischen Mitgliedern der EU mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit ausgetragen werden. Denken Sie zum Beispiel an die Art und Weise, wie in Deutschland jahrelang eine regelrechte Griechenland-Hetze betrieben worden ist. Ich bin aber genauso besorgt, in welchem Ton wir in der EU und auch in Deutschland über Osteuropa reden - ganz besonders über Russland.
tagesschau.de: Wann war ihrer Meinung nach der Wendepunkt?
Verheugen: Wenn wir die Geschichte der europäischen Integration seit 1957 betrachten, sehen wir, dass das Versprechen auf Frieden und Wohlstand jahrzehntelang gehalten werden konnte. Für mich fängt die Krise ungefähr mit dem Jahr 2005 an, als das Projekt einer europäischen Verfassung durch Volksentscheide in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert ist. Seit dieser Zeit wächst in den europäischen Staaten zunehmend die Skepsis, ob der eingeschlagene Weg der Integration der richtige Weg ist. Europakritische und sogar europafeindliche Parteien erstarken. Immer wieder geht es dabei um das Verhältnis zwischen nationaler Selbstbestimmung und angeblicher europäischer Fremdbestimmung. Ich glaube, dass dieses Problem in gefährlicher Weise unterschätzt worden ist - in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten, aber auch in den Brüsseler Institutionen.
"Keine Grenze durch Europa ziehen"
tagesschau.de: Passt es zu den europäischen Werten, dass man anfängt, Grenzen wieder zu schließen?
Verheugen: Das passt nicht dazu. Ein grundlegendes Prinzip der Idee der europäischen Einigung ist, dass diese Idee nicht exklusiv einem Teil Europas gehört, sondern allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam. Ich unterstreiche das Wort "allen" - ohne jede Ausnahme. Deshalb ist es ja auch so, dass sich jedes europäische Land - ich unterstreiche das Wort "jedes" - um die Mitgliedschaft in der EU bewerben kann. Wir können keine Politik betreiben, die sagt, wir ziehen eine Grenze durch den europäischen Kontinent. Die EU hat den Friedensnobelpreis 2012 dafür bekommen, dass sie sich der gesamteuropäischen Einigung verpflichtet hat und wichtige Schritte dazu gegangen ist. Im Augenblick sieht es aber so aus, als ob wir diesen Auftrag, der noch nicht erfüllt ist, vergessen hätten. Grenzen, egal wo in Europa, sind keine Lösung für das 21. Jahrhundert.
tagesschau.de: Und im Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen? Muss man sich wirklich mit Mauern und Grenzen abschotten, um die europäischen Werte zu schützen, wie es zum Beispiel der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban gesagt hat.
Verheugen: Eine der ganz großen Errungenschaften der EU ist die Freizügigkeit. Die Voraussetzung dafür, dass wir innerhalb der EU reisen können, wie wir wollen, ist natürlich der Schutz der Außengrenzen. Ich kann nicht Binnengrenzen abschaffen und mich um die Außengrenzen nicht kümmern. Und hier stehen wir vor dem Problem, dass der Schutz der Außengrenzen im Augenblick den Mitgliedsstaaten obliegt, die schwach sind und die auf den zahlenmäßigen Ansturm, den wir im Moment erleben, nicht vorbereitet sind. Es ist falsch, zu sagen, der Schutz der Außengrenzen obliegt allein den Staaten, die an einer solchen Grenze liegen. Diese Last müssen wir gemeinsam tragen.
tagesschau.de: Politiker sagen, wir müssen europäische Werte wie Humanität schützen - und dann machen sie die Grenzen für Flüchtlinge, die Schutz suchen, dicht. Ist das nicht widersprüchlich?
Verheugen: Womit sind wir konfrontiert? Wir haben Regeln, aber die Wirklichkeit und die Regeln passen nicht zusammen. Statt sich gemeinsam mit der Wirklichkeit zu beschäftigen, pochen die einen auf die Regeln und die anderen pfeifen darauf. Woraus soll denn da Gemeinsamkeit entstehen? Es ist unverkennbar, dass Länder wie Griechenland, Ungarn oder Slowenien überfordert sind. Wir werden die Fluchtursachen nicht schnell beseitigen können - vor allem die EU nicht. In einer solchen Lage sollte die EU legale Zugangsmöglichkeiten für Schutzbedürftige schaffen, damit niemand sich buchstäblich durchschlagen muss. Das wäre humanes Handeln.
"Die EU ist eine Wertegemeinschaft"
tagesschau.de: Die EU als Gemeinschaft - gibt es denn Werte, die durch die Mitgliedsstaaten einheitlich definiert werden?
Verheugen: Natürlich ist die EU eine Wertegemeinschaft. Die Grundlage des gesamten Systems ist das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten. So steht es zumindest im EU-Vertrag, der Grundlage für unser gemeinsames Handeln ist. Diese Werte sind eindeutig definiert: Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte, Solidarität, Schutz der Menschenwürde. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass am Projekt der europäischen Integration nur mitwirken kann, wer bereit ist, diese gemeinsamen Werte zu vertreten und mit den anderen zusammen zu verwirklichen. Die Frage ist, ob das Bewusstsein im Moment stark genug ist, für diese Werte gemeinsam einzustehen. Das bedeutet, Rücksicht aufeinander zu nehmen und nicht die nationalen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Die Tendenz geht aber genau in die andere Richtung.
"Europa ist kein Club christlicher Staaten"
tagesschau.de: Wird auf europäische Werte gepocht, um andere Menschen auszuschließen? Zum Beispiel Menschen, die dem Islam angehören? Oder die Türkei?
Verheugen: An dieser Stelle muss man sehr deutlich sagen, dass die grundlegenden Werte der EU nicht an eine spezielle Religion gebunden sind. Der einzige Bezug zur Religion ist, dass wir die Religionsfreiheit in der EU als ein Grundrecht akzeptieren und verteidigen. Das gilt aber für alle Religionen. Europa ist kein Club von christlichen Staaten. Das ist ein grundsätzliches Missverständnis. Historisch gesehen gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass zu Europa nicht nur das Christentum gehört, sondern auch der Islam und selbstverständlich auch das Judentum.
tagesschau.de: Wie geht es Ihnen persönlich im Moment mit dem Europa, das sie erleben?
Verheugen: Ich bin sehr besorgt - mehr als ich es jemals war. Ich hätte bis vor kurzem an die Möglichkeit eines Scheiterns der europäischen Integration nicht geglaubt. Ich hätte das für unmöglich gehalten. Ich halte es heute nicht mehr für unmöglich, dass sich die EU tatsächlich auflöst. Ich habe seit der Schuldenkrise, genauer gesagt wegen unseres Umgangs mit ihr, das Gefühl, dass ein Verfall begonnen hat. Ich kann nur eindringlich an alle, die politische Führungsämter inne haben, appellieren, sich dem mit aller Kraft entgegenzustemmen.
Das Interview führte Julia Kuttner, tagesschau.de.