EU-Parlament zu "Chatkontrolle" Im Dilemma zwischen Daten- und Kinderschutz
Sollen Onlinedienste Kundenchats durchsuchen dürfen? Was beim Kampf gegen Missbrauchsdarstellungen von Kindern helfen könnte, sorgt bei Datenschützern für Kritik. Heute legt das EU-Parlament seine Position dazu fest.
Die Zahlen sind bedrückend - der sexuelle Missbrauch von Kindern im Netz ist offenbar ziemlich allgegenwärtig: Mehr als 85 Millionen Bilder und Videos mit Missbrauchsdarstellungen haben Internet-Firmen weltweit allein im Jahr 2021 gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte also riesig sein - und die Tendenz stetig steigend, so erklärt die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ihren Gesetzesvorschlag: "Er ist dazu da, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen. Er ist dazu da, die Opfer dieser schrecklichen Verbrechen davor zu schützen, sie immer wieder im Internet zu sehen und durchleben zu müssen."
Europa als Tatort
Drei von fünf weltweit bekannten Missbrauchsdarstellungen liegen auf einem Server in einem EU-Staat, so die Daten der Stiftung Internet Watch Foundation. In Deutschland hat sich das Volumen demnach binnen eines Jahres verzehnfacht. Und gerade von deutscher Seite kommt besonders viel Widerstand gegen den Vorschlag der Kommissarin, Onlinedienste künftig zu verpflichten, die Kommunikation ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu durchsuchen - auch "Chatkontrolle" genannt.
Von "Schnüffelinitiative" spricht der EU-Abgeordnete Moritz Körner. Und Parlamentskollege Patrick Breyer arbeitete für die Piratenpartei im Innenausschuss an der finalen Verhandlungsposition mit. Die fordert nun deutlich weniger Kontrolle, so Breyer: Es sei die offizielle und mit großer Mehrheit getragene Position des EU-Parlaments, dass die Chatkontrolle gestoppt und sichere Verschlüsselung garantiert werden soll. "Das bedeutet: Statt anlassloser Massendurchleuchtung privater Kommunikation soll nur eine gezielte Überwachung bestimmter Personen und Gruppen bei konkretem Verdacht zugelassen werden."
"Ein sehr starker Eingriff"
Nach dem Willen des Parlaments sollen verschlüsselte Chats nicht verhindert oder aufgebrochen werden können. Anbieter könnten auch nicht verpflichtet werden, im Zweifel direkt auf dem Smartphone nach potentiellen Missbrauchsbildern zu suchen. Aus Sicht von Birgit Sippel, die für die SPD im zuständigen Innenausschuss sitzt, ein wichtiger Punkt: "Dieses Client-Side-Scanning, also dass man auf die Geräte geht, ist ein sehr starker Eingriff. Wenn man da einmal sagt: 'Wir haben jetzt den Schlüssel und können jederzeit reinschauen', dann wird dieser Schlüssel auch benutzt - jenseits der Frage des Kindesmissbrauchs. Und das wäre dann etwas, wo man die Dinge nicht mehr wirklich zurückholen kann."
Aber gerät bei so viel Fokus auf Datenschutz der Kinderschutz aus dem Blick? Nein, so Sippel, es gehe um die Verhältnismäßigkeit und Erfolgsaussichten: "Viele Missbrauchsbilder, die in Europa gespeichert werden, sind womöglich nicht der Ort des Tatgeschehens. Da ist die Frage, ob man über das Erkennen und Löschen der Bilder auch die Täter und die Opfer findet."
Die Zeit drängt
Jonah Thompson von der Stiftung Internet Watch Foundation zeigt sich angesichts solcher Argumentationen alarmiert. Käme diese Parlamentsposition in den Verhandlungen mit den EU-Mitgliedsstaaten durch, wäre das ein für den Kinderschutz fataler Rückschritt: "Dadurch entsteht ein lächerliches Henne-Ei-Szenario: Man muss den Verdacht bei einzelnen Nutzern erst nachweisen, um überhaupt mit der Aufdeckung beginnen zu können. Wenn dieser Vorschlag des EU-Parlaments auch vom Rat angenommen würde, werden die albtraumhaften Auswirkungen bald spürbar sein."
Aber auch die 27 EU-Staaten ringen noch um eine Position. Dabei drängt die Zeit: Ohne ein neues Gesetzeswerk läuft im Sommer 2024 auch eine Regelung aus, auf deren Grundlage die Onlinedienste freiwillig bei den Behörden in der EU Missbrauchsbilder melden können.
Bis dahin hat man dann - so scheint es zumindest bislang - vor allem diskutiert, welche Eingriffe in die Kommunikation zu weit gehen könnten. Weniger gesprochen hätte man hingegen darüber, was künftig wirklich angesichts der stetig wachsenden Verbreitung von Kindesmissbrauch im Netz helfen könnte.