Olaf Scholz, Bundeskanzler von Deutschland, trifft zu einem EU-Sondergipfel ein (Archivbild).
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Deutscher Schlingerkurs in der EU Berlin sagt in Brüssel immer wieder Jein

Stand: 08.02.2024 03:21 Uhr

In den vergangenen Monaten machte das deutsche Verhalten in Brüssel mehrfach Schlagzeilen. Längst verhandelte Kompromisse standen auf der Kippe - wie aktuell beim Lieferkettengesetz. Wie verlässlich ist Deutschland?

Wenn Lara Wolters an die FDP denkt, fühlt sie sich an ihren zweijährigen Sohn erinnert, der wütend das Spielzeug aus dem Kinderwagen wirft. "Wenn wir in Europa so weitermachen, dann können wir keinerlei Fortschritt erzielen", sagt die niederländische Sozialdemokratin im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel.

Für das Europaparlament hatte sie federführend das Lieferkettengesetz ausgehandelt - bis zum finalen Kompromiss, wie es schien. Dennoch könnte das Vorhaben noch scheitern. Die Verantwortung dafür sieht Lara Wolters bei der FDP. Die hatte kürzlich der Ampelkoalition in Berlin ein Stoppschild in den Weg gestellt. Jetzt wird sich die Bundesregierung am Freitag in Brüssel bei der abschließenden Abstimmung der 27 Mitgliedstaaten enthalten, was wie ein Nein zählt.

Wie verlässlich ist Deutschland als Partner in der EU?

Das Lieferkettengesetz ist kein Einzelfall. In den vergangenen Monaten machte das deutsche Verhalten in Brüssel mehrfach Schlagzeilen. Längst verhandelte Kompromisse standen auf der Kippe. Sei es beim Plan, nach 2035 keine neuen Verbrenner-Pkw mehr zuzulassen, sei es bei der weltweit ersten Regulierung von Künstlicher Intelligenz oder ganz aktuell bei neuen Abgaswerten für Lkw und Busse.

Bedenken kamen jeweils von FDP-Ministern. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sagt öffentlich: "Wenn wir unser einmal in Brüssel gegebenes Wort brechen, verspielen wir Vertrauen." Das schade "unserer Verlässlichkeit als Partner und unserem Gewicht in Europa". Ein Wumms in Richtung des liberalen Koalitionspartners.

Immer wieder "German Vote"

Wie verlässlich ist das größte EU-Land als Partner? Dass deutsche Koalitionsregierungen bei EU-Abstimmungen nicht rechtzeitig eine gemeinsame Linie finden und sich deshalb enthalten, ist kein neues Phänomen, bestens bekannt als "German Vote". Doch für besonderen Unmut - nicht nur bei der Niederländerin Wolters - sorgt der sehr späte Zeitpunkt im Gesetzgebungsverfahren.

Zur Erläuterung: Das finale Ergebnis wird oft im sogenannten Trilog gefunden. Dabei treffen sich Unterhändler der drei Institutionen: des EU-Parlaments, der aktuellen Ratspräsidentschaft für die 27 Mitgliedstaaten und der EU-Kommission. Am Ende steht ein Kompromiss, dem abschließend Rat und Parlament noch einmal zustimmen müssen.

Es ist möglich, dieses Ergebnis noch einmal anzuhalten und aufzuribbeln. Als dauerhaftes Instrument taugt es aber nicht. Die eigene Beliebtheit steigert es kaum, nachdem ein Trilog wie beim KI-Gesetz drei Tage und zwei Nächte gedauert hat.

Ampel hinkt eigenen Ansprüchen hinterher

Die Europäische Union wird auch als gigantische Kompromiss-Maschine bezeichnet. Bis 27 Länder plus ihre gewählten Vertreter im EU-Parlament zu einer Linie gefunden haben, kann es dauern, stocken und ruckeln. Immer mal wieder sieht ein Land die Notwendigkeit, sich querzulegen. Das allein ist noch kein Drama und wird nicht nur von Deutschland praktiziert. Geben und Nehmen.

Umso wichtiger ist, dass langfristig das Vertrauen in die Zuverlässigkeit keinen Knacks bekommt. Als die Ampelkoalition noch unverbraucht und im Aufbruch war, hatte sie sich mit Blick auf Europa vorgenommen, sich "durch eine stringentere Koordinierung eindeutig und frühzeitig zu Vorhaben der Europäischen Kommission zu positionieren" und wollte ein "geschlossenes Auftreten gegenüber den europäischen Partnern und Institutionen" sicherstellen.

FDP moniert "bürokratische Mehrbelastungen"

Und heute? Nach dem Lieferketten-Nein warf Arbeitsminister Heil den Liberalen eine "ideologisch motivierte Blockade" vor. Noch ein Wumms. Die FDP-Häuser führen dagegen inhaltliche Gründe für die Ablehnung an. Das Ziel, Menschenrechte und Umwelt in den Lieferketten besser zu schützen, unterstütze man. Doch drohten unter anderem "bürokratische Mehrbelastungen". Und: "Im Kampf für unsere Werte brauchen wir als EU aber auch einen neuen Realismus und dürfen uns nicht durch bürokratische Regelungen in falscher Weise selbst fesseln."

So schreiben es Finanzminister Lindner und Justizminister Buschmann. Dass Buschmann die Begründung jetzt noch einmal an alle EU-Staaten schickte, sorgt für neuen Ärger. Mit dem "unabgestimmten" Brief und mit "falschen Aussagen" versuche der FDP-Minister andere Länder umzustimmen, schreibt der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken bei X: "Das ist schäbig und gefährlich."

Unberechenbarkeit in Krisenzeiten

Deutschland hat im Brüsseler Europaviertel in den vergangenen Monaten immer wieder für Schulterzucken, Kopfschütteln und auch Wut gesorgt. Unberechenbarkeit ist sicher nicht das, was in Krisenzeiten von der Bundesregierung erwartet wird.

Und der Bundeskanzler? Beim Sondergipfel in Brüssel hatte Olaf Scholz betont, ein europäisches Lieferkettengesetz sei "natürlich ein Anliegen, das ich nur richtig finde". Zum Koalitionsstreit darüber sagte er: "Manchmal ist der Fortschritt eine Schnecke." Dass er selbst die Schnecke kurzfristig auf Tempo bringen will, ist bisher nicht zu erkennen.

Mitarbeit: Olga Chládková