Ein Jahr Sputnik V-Impfstoff Prestigeprojekt mit Stolperstart
Vor einem Jahr verkündete Russlands Präsident Putin den weltweit ersten Corona-Impfstoff. Doch bis heute trauen viele dem Prestigeobjekt nicht. Russlands Impfquote hinkt hinterher. Nun wird sie immer mehr zur Pflicht.
"Soweit ich weiß, wurde heute Morgen zum ersten Mal auf der Welt ein Impfstoff gegen die neuartige Coronavirus-Infektion registriert." Was Wladimir Putin vor genau einem Jahr in fast schon beiläufigem Ton während einer Regierungssitzung verkündete, löste im russischen Staatsfernsehen einen Sturm der Begeisterung aus.
Eine Sensation, die Hauptnachricht für die Weltmedien - der erste, rettende Impfstoff gegen Covid-19. Ein russischer. Sputnik V - benannt nach dem ersten Weltraumsatelliten, den die Sowjetunion vor 64 Jahren erfolgreich ins All schoss. Wieder war man Erster, hat es allen gezeigt.
Versuchskaninchen für Prestigeprojekt?
Doch diesmal blieb der anerkennende Jubel aus. Stattdessen: Misstrauen gegenüber dem in nur sechs Monaten entwickelten und nach nur zwei von drei vollendeten Testphasen bereits offiziell zugelassenen Vakzin. Man wolle kein Versuchskaninchen für ein politisches Prestigeprojekt sein - so die Kritik vieler Russinnen und Russen, die bis heute anhält.
"Nein, ich vertraue dem Impfstoff Sputnik V nicht", sagt die 30-jährige Moskauerin Ewgenija. "Und wenn ich mich impfen lassen müsste, dann sicher nicht mit Sputnik. Welche Auswirkungen das auch in Zukunft auf meine Gesundheit haben könnte, ist nicht bekannt. Also nein."
Auch russische Wissenschaftler kritisierten, dass man in der Kürze der Zeit kaum etwas über die Wirksamkeit und Sicherheit des Vakzins sagen könne. Monate nach der Zulassung attestierte zwar die renommierte Fachzeitschrift "The Lancet" Sputnik V eine "sehr hohe" Wirksamkeit von über 90 Prozent. Trotzdem hat Russland noch immer Mühe, den verstolperten Start aufzuholen.
Immer breitere Impfpflicht
Mangelndes Vertrauen, Lieferengpässe in den Regionen: Von der damals angekündigten Massenimmunisierung kann heute keine Rede sein. Gerade einmal ein Fünftel der russischen Bevölkerung gilt als vollständig geimpft. Einem Teil davon wurde die Entscheidung letztlich von den Behörden abgenommen - wie der 27-jährigen Universitätsangestellten Marina. "Ich bin geimpft, weil es bei der Arbeit zwei Möglichkeiten gab: entweder impfen lassen oder unbezahlten Urlaub nehmen. Da gab keine Diskussionen oder Alternativen."
In über 40 russischen Regionen gilt mittlerweile eine breite Impfpflicht für bestimmte Branchen - unter anderem im Bildungs- und Gesundheitswesen wie auch in der Gastronomie. In Betrieben müssen 60 Prozent der Angestellten geimpft sein.
Delta erhöht den Druck
Auch an Veras Arbeitsplatz sind Impfungen Pflicht. Sie habe sich jedoch selbst dafür entschieden, erklärt die 28-jährige Managerin. "Weil ich mir der Notwendigkeit bewusst bin. Erstens möchte ich nicht an Covid erkranken und Nachwirkungen erleben. Zweitens brauchen wir eine Herdenimmunität."
Die sich ausbreitende Delta-Variante erhöht den Druck. In Moskau wirbt der Bürgermeister bereits für eine dritte Booster-Impfung, um den Schutz zu erhöhen. Mittlerweile hat Russland insgesamt vier eigene Impfstoffe zugelassen - Sputnik V bleibt aber das wichtigste Aushängeschild. In 69 Ländern sei das russische Vakzin laut dem für die internationale Vermarktung zuständigen staatlichen Direktinvestmentfonds registriert.
Noch keine EU-Zulassung
Auf eine Zulassung in der EU wartet man noch. Seit März prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA den Impfstoff. Erst vor wenigen Tagen sagte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, dass es dem Hersteller bisher nicht gelungen sei, genügend valide Daten zu liefern, um die Sicherheit von Sputnik V nachzuweisen.
Produziert wird der russische Impfstoff unter anderem in Belarus, Mexiko, Südkorea und Indien. Ab September soll auch der weltgrößte Impfstoffhersteller, das Serum Institute of India, über 300 Millionen Dosen Sputnik V pro Jahr liefern. Damit will Russland auch seinen Lieferschwierigkeiten in In- und Ausland beikommen.