Seismologen warnen Istanbuls Angst vor dem großen Beben
Seit dem Erdbeben im Südosten der Türkei geht in Istanbul die Angst um. Experten sind sich sicher, dass auch der Millionen-Metropole am Bosporus in den nächsten Jahren ein großes Beben droht.
Nur 15 Kilometer von Istanbul entfernt verläuft am Grund des Marmarameeres eine geologische Störungszone. Hier schiebt sich die Anatolische Platte seitwärts entlang der Eurasischen Kontinentalplatte - jedes Jahr um 25 Millimeter.
Die Erdplatten drängen gegeneinander, verhaken sich und entladen die Energie immer wieder. Viel Spannung baut sich also vor Istanbul auf. Der angesehene Geologe Celal Sengör warnt die Bevölkerung: "Ziehen sie weg aus dem Zentrum!"
Bürgermeister warnt vor "riesiger Gefahr"
Auch der Bürgermeister sagt, man wisse, dass Istanbul eine riesige Gefahr droht. Mit diesen drastischen Worten warnt Ekrem Imamoglu vor den Folgen eines möglichen Erdbebens. In der Metropole seien rund 90.000 Gebäude gefährdet, auch weil die Bauvorschriften oft nicht eingehalten würden.
Eine Amnestieregelung der Regierung habe zudem viele illegal errichtete Häuser legalisiert. "Unzureichende Materialien, illegale Bauprojekte, illegale Häuser, nicht genehmigte Änderungen an den Gebäuden, unzureichende Kontrollen - all das sind Schwachstellen der Verwaltung", sagt Imamoglu. Der Bürgermeister von der oppositionellen Partei CHP, der sich im Wahlkampf befindet, kündigt Verbesserungen an.
Gebäude werden untersucht
Auch deshalb soll der Zustand vieler Gebäude in Istanbul in einer groß angelegten Aktion untersucht werden. Wie zum Beispiel im besonders erdbebengefährdeten Stadtteil Bakirköy, auf der europäischen Seite. Hier stehen viele ältere Gebäude neben Neubauten.
Ein Team der Stadtverwaltung untersucht mit Bohrer und Messgeräten eine Wohnung. Der Zustand und die Zusammensetzung des Betons, aber auch Eisenträger werden untersucht. Dann gibt es ein Protokoll, wie weiter vorgegangen werden soll. Unklar ist nur, wie verbindlich das ist - und wer Umbauten bezahlen soll.
Ein Mieter berichtet, dass hier alle sehr nervös seien. Doch wegziehen sei keine Option, weil das zu teuer sei und man nicht wisse, wohin, sagt Aykut Irevül. Er fügt hinzu, dass vor allem Vermieter und Bauunternehmen jetzt das große Geschäft witterten und die Mieter am Ende deutlich mehr belasteten.
Nachfrage nach Kontrollen ist groß
Was auffällt: Der Andrang für die Kontrollen der Stadt ist riesengroß. Eine ältere Frau steht vor ihrem rissigen Haus und beklagt, dass ihr Haus 50 Jahre alt sei und der Eigentümer bisher wenig in das Gebäude investiert habe. Die Anmeldungsliste der Kontrollen seien zudem lang. Ein Termin sei kaum zu bekommen.
Die andere, kostspieligere Untersuchung steht vielen nicht zur Verfügung: Die Gebäude können auch durch private Institute untersuchen werden. Das kostet aber eine Menge Geld. Die Ergebnisse sind dann vertraulich, das heißt jeder Eigentümer kann damit umgehen, wie er will.
Schutzflächen oft selbst gefährdet
Jedes Viertel in Istanbul hat seine Schutzflächen, zu denen die Menschen bei einem Beben kommen sollen. Das Problem ist nur, dass viele dieser Schutzflächen zu klein sind oder selber in gefährdeten Gebieten liegen, wie zum Beispiel am Bosporus.
In Cihangir, einem dicht bebauten Viertel, sollen sich die Menschen auf einer Garage sammeln. Luftaufnahmen zeigen, dass diese selbst einsturzgefährdete Fläche aber im Notfall viel zu klein sein könnte für die Zehntausenden Menschen vor Ort. Ähnliche Probleme gibt es auch in anderen Stadtteilen.
Ansturm auf Ausrüstung für Ernstfall
Alles, was im Extremfall benötigt werden könnte, steht gerade hoch im Kurs. Yunus Enre Can betreibt einen Outdoorladen. Er sagt, dass vor allem junge Leute jetzt vermehrt zu ihm kämen. Trillerpfeifen, Stirnlampen und vor allem Schlafsäcke werden gekauft.
Und Zelte. "Familien bevorzugen zumeist ein großes Zelt für mindestens vier Personen. Aber manche kaufen auch größere Zelt, in denen bis zu acht Personen oder Gegenstände Platz zu haben", sagt Can. Viele Artikel seien aber schon ausverkauft.
Istanbul hat einen Katastrophenplan für den Fall eines Bebens. Doch viele Menschen glauben nicht, dass dieser Plan reichen würde. Denn was nützen die besten Pläne, wenn Zufahrtswege durch zerstörte Gebäude blockiert sind, es nicht genügend Schutz- und Sammelflächen gibt.
Deshalb nehmen viele Istanbuler die Erdbebenprävention in die eigene Hand: Erdbebencontainer werden in den Garten gestellt, so es einen Garten gibt. Nahrungsmittel und Wasser werden gelagert. Und der Erdbebenrucksack mit Helm, medizinischer Erstversorgung und Kleidung liegt bei vielen griffbereit in der Wohnung.