Bericht aus Erdbebengebiet "Dann zittert alles"
Inmitten der Angst vor neuen Nachbeben läuft die Hilfe in Syrien und der Türkei an. Seit Jahren ist die Welthungerhilfe vor Ort. Nothilfekoordinator Weickert schildert aus dem türkischen Gaziantep, was die Organisation unter welchen Umständen zu leisten versucht.
tagesschau.de: Wie war Ihre erste Nacht nach dem Beben?
Jesco Weickert: Viel geschlafen habe ich nicht. Ich lebe hier in Gaziantep in einer Art Ferienwohnung. Dahin bin ich auch gestern Abend zurückgekehrt. Um mich herum steht noch alles. Das Gebäude, in dem ich wohne, macht jetzt nicht den Eindruck, als würde es jeden Moment in sich zusammenkrachen, und deswegen bin ich hier geblieben.
Trotzdem hat es ein paar Risse, auch vom Dach waren ein paar Steine heruntergekommen. Ich hatte für mich überlegt, ob ich in einem Shelter, einer Art Schutzraum, schlafen will, wo ich wahrscheinlich auch überhaupt nicht hätte schlafen können, oder bleibe ich lieber hier. Hinzu kam, wir hatten unheimlich viele Nachbeben. Das fühlt sich dann an, als würde ein Zug vorbeifahren.
Dann zittert alles. Das gibt ihnen so ein ständiges Gefühl, auf wackligem Grund zu stehen. In dieser Lage ist es dann auch wahnsinnig schwer, sich so weit zu beruhigen, dass man schläft.
Jesco Weickert arbeitet als Nothilfekoordinator für die Welthungerhilfe im türkischen Gaziantep. Die Hilfsorganisation ist seit 2013 in der Region tätig. Mit 245 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Regionalbüro Gaziantep und Projektbüros in Nordwestsyrien sowie mit lokalen Partnerorganisationen unterstützt sie geflüchtete Syrer und Syrerinnen und die aufnehmenden Gemeinden in Nordwestsyrien und im Südosten der Türkei.
Viele Menschen übernachten in ihren Autos
tagesschau.de: Sie sagen, in Ihrer Gegend stehe noch alles. Wenn Sie vor Ihr Haus treten, welches Bild bietet sich Ihnen?
Weickert: Im Vergleich zu gestern sind die Straßen heute eher leer. Vor meinem Haus ist ein Platz mit einer Schule. Da ist jetzt nicht mehr so viel los wie gestern, als sehr viele Leute draußen standen. Ich bin noch nicht durch die Stadt gelaufen. Ich weiß aber, dass viele Leute noch nicht in die Häuser zurückgegangen sind, sondern in ihren Autos geschlafen haben.
In irgendwelchen Ecken, die weit genug von hohen Gebäuden entfernt liegen, stehen die Parkplätze voller Autos, in denen ganze Familien übernachten.
tagesschau.de: Wie läuft Ihrer Einschätzung nach die Notfallversorgung an?
Weickert: Der Flughafen von Gaziantep ist zwar beschädigt, aber funktioniert noch und ist gerade ausschließlich für Hilfslieferungen geöffnet. Mit der Notfallversorgung funktioniert das aus meiner Sicht einigermaßen.
Es ist das eine, den Schutt wegzuräumen. Das andere sorgt mich mindestens genauso. Gaziantep hat zweieinhalb Millionen Einwohner. Da sind gerade alle Gebäude durchgeschüttelt. Alle Gebäude müssten überprüft werden, ob sie noch sicher sind. Wir heizen hier mit Gas. Die Gasleitungen müssen überprüft werden. Der Wasserdruck ist runter. Das heißt, da sind wahrscheinlich auch irgendwelche Wasserrohre geplatzt, kaputt, verschoben. Das wird alles dauern.
Schon vor dem Beben auf humanitäre Hilfe angewiesen
tagesschau.de: Wenn sich jetzt viele Helfer auf den Weg ins Erdbebengebiet machen, woran fehlt es dann im Moment aus Ihrer Sicht am meisten, was sollten sie im Gepäck haben?
Weickert: Es kommt darauf an, wo wir hinblicken. Viele brauchen schweres Gerät für die Bergung. An einigen Stellen sind auch Notunterkünfte gefragt. Aber in der Türkei sind es eher Nahrung und warme Decken. In Nordsyrien hingegen fehlt es an allem, an Materialien, an schwerem Gerät, um den Schutt wegzuräumen, damit man an die Leute, die darunter liegen, rankommt. Zelte, Nahrungsmittel, Kleidung, im Grunde alles.
Sie müssen sich vorstellen, in Idlib war vorher schon der Großteil der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen, das ist ein einziges großes Flüchtlingscamp, die Menschen fangen wieder bei Null an.
tagesschau.de: Was hören Sie von syrischer Seite, wie ist die Lage dort? Dort ist es ja viel schwerer an verlässliche Daten zu kommen, große Gebiete sind fest in der Hand von Aufständischen.
Weickert: Ja, wir als Welthungerhilfe haben ja auch ein großes Team vor Ort. Einige unserer Kolleginnen und Kollegen haben ihre Häuser verloren. Wir haben zum Glück keine Toten zu beklagen, aber teilweise sind Familienangehörige betroffen. Und wir sind dabei, Hilfe zu organisieren. In Form von Reparaturmaterialien für beschädigte Gebäude, warmer Kleidung, Nahrung, Trinkwasser.
Teils läuft die Hilfe auch über syrische NGO. Wir führen hierzu gerade Gespräche und hoffen, dass wir dann mit diesen Partnern direkt loslegen können.
"Der Zugang rein nach Syrien ist kompliziert"
tagesschau.de: Wie gehen sie denn bei ihrer Hilfe vor, beziehungsweise, wie kommen sie überhaupt ins Land?
Weickert: Wir haben zwar einen Zugang, nur sind auch in der Türkei die Straßen beschädigt und das beeinflusst auch die normalen Lieferungen über die Grenze. Das ist gerade schwierig. Deswegen versuchen wir jetzt vor Ort, die Materialien zu besorgen, die wir brauchen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Ein weiteres Thema für die Menschen dort sind die Lieferketten, wenn es um Nahrungsmittelversorgung vor Ort geht. Die funktioniert nicht, lokale Supermärkte für die Dinge des täglichen Lebens werden im Moment nicht beliefert.
tagesschau.de: Steht und fällt also alles mit dem einzigen Zugang, den es im Moment gibt, den in Bab al-Hawa?
Weickert: Jein, das ist kompliziert. Jeder Staat kann souverän darüber entscheiden, ob er humanitäre Hilfe ins Land lässt oder nicht. Die Türkei hat jetzt gesagt, 'Bitte helft uns'. Deswegen kommen jetzt Helferinnen und Helfer aus 20 Ländern hierher und schicken ihre Teams zur Unterstützung. Die syrische Regierung hat diese Freigabe für den Nordwesten Syriens nicht erteilt.
Das heißt, eigentlich darf da gar keine internationale Hilfe hin. Zumindest keine, die über die Vereinten Nationen abgewickelt wird. Dann gibt es eine so genannte "Cross Border Resolution". Das ist quasi eine Ausnahmegenehmigung, dass jetzt die Vereinten Nationen und untergeordnete UN-Organisationen wie das UNHCR oder das Welternährungsprogramm ihre Lieferungen ohne Zustimmung der syrischen Regierung von der Türkei aus nach Syrien bringen dürfen und vor Ort Projekte durchführen. Diese Resolution ist Anfang Januar zum Glück verlängert worden.
tagesschau.de: Blicken wir auf die nächsten Tage. In der Wettervorhersage ist von eisigen Temperaturen die Rede. Was bedeutet das für die Rettungsarbeiten, für die Menschen vor Ort?
Weickert: Wir blicken auf eine Wetterlage rund um den Gefrierpunkt. Es ist einfach unheimlich kalt. Teils taut der Schnee. Das heißt, es ist in Syrien matschig. Da haben Sie sowieso nicht mehr so viele geteerte, instandgehaltene Straßen. Die Wege sind teils überflutet. Und für die Menschen, die in den eingestürzten Gebäuden gefangen sind, bedeutet eine Nacht draußen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, dass die Chancen für eine Rettung noch geringer werden.
tagesschau.de: Wie ertragen Sie und ihr Team die Situation?
Weickert: Wir sind alle deutlich angeschlagen. Wenig Schlaf und Angst um das eigene Leben machen die Lage recht schwer. Jeder ist jetzt erst mal auch ein gutes Stück mit sich selbst beschäftigt. Wir versuchen aber, einigermaßen damit klarzukommen und trotzdem möglichst schnell in einen anderen Modus zu schalten. Wir reagieren jetzt auf die Krise und versuchen unseren Anteil zu leisten und zu helfen.
Das Interview führte Katja Keppner, tagesschau.de