Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg

EGMR-Urteil gegen Russland Das Unrecht dokumentieren

Stand: 25.06.2024 17:03 Uhr

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht es als erwiesen an: Russland verstößt auf der Krim systematisch gegen Menschenrechte. Direkte Konsequenzen hat das zunächst nicht - dennoch ist es für spätere Verfahren wichtig.

Mehr als 7.400 Menschen aus der Ukraine haben sich in den letzten Jahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg über Russland beschwert - wegen der Annexion der Krim, wegen des Kriegs in der Ostukraine oder wegen der russischen Angriffe seit 2022.

Dazu hat die ukrainische Regierung vier sogenannte Staatenbeschwerden gegen das Nachbarland erhoben. Jetzt hat die Große Kammer des Gerichtshofs die erste dieser Klagen entschieden. Es ging um die Folgen der Krim-Besetzung, nicht um die Frage, ob die Annexion an sich rechtmäßig war.

Ein ungewöhnlich umfangreiches Urteil

In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof im letzten Dezember hatte die stellvertretende Justizministerin der Ukraine Iryna Mudra darauf hingewiesen, dass seit 2014 auf der Krim sehr viele Menschenrechtsverletzungen dokumentiert seien:

Es sind fast alle Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden. Und wir versuchen zu zeigen, dass das keine Einzelfälle sind, sondern dass das der russischen Verwaltungspraxis entspricht, ein Muster, das auf der Krim begonnen hat und dann auf andere Regionen der Ukraine ausgeweitet wurde.
Iryna Mudra, Justizministerin Ukraine

Die 17 Richterinnen und Richter des Gerichtshofs sehen das genauso. Sie schreiben in ihrem fast 350 Seiten starken Urteil, dass es sehr schwierig gewesen sei, die Vorwürfe aufzuklären. Es gehe um viele Menschen, einen langen Zeitraum und um Vorgänge in einem riesigen Gebiet, auf der Krim und in Russland.

Außerdem habe Russland in keiner Weise bei der Aufklärung mitgeholfen. Und unabhängige Recherchen seien auf der Krim nicht möglich. Unterm Strich stellen sie aber fest, dass es genügend Beweise für sehr viele Vorfälle gegeben habe. Man müsse sogar von einem Muster sprechen. Und für dieses Muster von Menschenrechtsverletzungen sei Russland auch verantwortlich.

Dokumentation der Gewalt

In dem Urteil aus Straßburg geht es allein darum, wie sich russische Truppen und von Russland geduldete paramilitärische Kräfte seit 2014 auf der Krim verhalten haben. Der Gerichtshof trägt alle Beschwerden zusammen: brutale Übergriffe durch Sicherheitskräfte, Folter, Verschwinden lassen, Ermordungen und unrechtmäßige Inhaftierungen.

Es geht auch um die Unterdrückung der ukrainischen Sprache, Verfolgung nicht-russischer Medien, Schikane gegen alle Religionsgemeinschaften, die nicht russisch-orthodox waren, sowie Zwangseinbürgerungen ukrainischer Staatsbürger.

Russland hat nicht überzeugen können

Russland hatte sich in dem Gerichtsverfahren nur schriftlich geäußert, hatte die Anschuldigungen als zu vage kritisiert und darauf verwiesen, dass alle Maßnahmen vom russischen Rechtssystem gedeckt seien. Das hat den Menschenrechtsgerichtshof allerdings nicht überzeugt.

Im Gegenteil: Er verurteilt Russland, weil es sehr viele Grundrechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt habe, nicht nur das Recht auf Leben oder das Recht auf ein faires Verfahren. Auch das Recht auf Eigentum oder das Recht auf Privatleben sei zum Beispiel durch Enteignungen oder Zwangseinbürgerungen verletzt worden.

Der Gerichtshof fordert Russland auf, verschleppte Gefangene zurückzubringen. Ansonsten gibt es keine weiteren Forderungen an das Land, das inzwischen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgetreten ist. Im Urteil wird nur erklärt, dass die Frage der Entschädigungen noch offengelassen wird. Wesentliches Ziel der Richter war offenbar vor allem festzustellen, wieviel Unrecht seit 2014 auf der Krim geschah.

Urteil könnte für andere Gerichtsverfahren wichtig werden

Die stellvertretende Justizministerin der Ukraine hatte bei der mündlichen Verhandlung im letzten Dezember gesagt, ihr ginge es mit dem Verfahren vor allem darum, dass Tatsachen dokumentiert würden. Und auf alle diese offiziellen Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs kann die Ukraine jetzt in Verfahren vor anderen internationalen Gerichten verweisen.

Gleichzeitig kann das Urteil als Rechtfertigung für den aktuellen Abwehrkampf der Ukraine dienen, denn es beschreibt sehr genau, was passieren könnte, wenn weitere Teile der Ukraine Russland überlassen würden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 25. Juni 2024 um 16:38 Uhr.