Erste Bilanz der EU-Kommission Sorgen wegen russischer Desinformation nehmen zu
Vor einigen Monaten hatte die EU Onlinedienste gebeten, russische Desinformation zum Ukraine-Krieg zu sammeln. Eine erste Bilanz zeigt: Diese verbreitet sich immer weiter - vor allem bei X.
Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Vera Jourova, macht sich Sorgen wegen der Wirkung russischer Propaganda auf die Politik und die Zivilgesellschaft in der EU. Die tschechische Politikerin, die in der Kommission für "Werte und Transparenz" zuständig ist, forderte die Internetgiganten Alphabet, Google, Microsoft, Meta Platforms und TikTok dazu auf, mehr gegen Desinformationskampagnen zu tun.
Jourova sprach von einer "Multimillionen-Euro-Massenmanipulationswaffe" vor den Wahlen in Europa. Russland sei daran gelegen, die Parlamentswahlen in der Slowakei am 30. September durch Falschinformationen zu beeinflussen - ebenso wie die Wahlen in Polen im Oktober und die Europawahlen im kommenden Jahr.
Anlass für die Warnungen sind die neusten Informationen zahlreicher Onlinedienste, die sich auf freiwilliger Basis einem EU-Verhaltenskodex gegen Desinformation angeschlossen hatten. Diese Unternehmen haben der EU-Kommission mitgeteilt, was sie in den vergangenen sechs Monaten zur Bekämpfung von Fake News mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine unternommen haben: Im Durchschnitt mehr als 200 Seiten übermittelten sie nach Brüssel, die bis jetzt nur zum Teil ausgewertet wurden.
Vera Jourova, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Werte und Transparenz, hält zu den Berichten der großen Onlineplattformen im Rahmen des Verhaltenskodex für Desinformation eine Pressekonferenz in Brüssel.
Twitter auf Rang eins der Desinformationen
Trotzdem gab Jourova einen Überblick: Der Kurznachrichtendienst X, ehemals Twitter, bezeichnete sie als "Plattform mit dem größten Anteil an Fehl- und Desinformationsbeiträgen". Grundsätzlich hätten "Desinformationsakteure" deutlich mehr Follower als ihre "Nicht-Desinformationskollegen".
Google habe berichtet, dass YouTube allein zwischen Januar und April dieses Jahres mehr als 400 Kanäle geschlossen habe, die an "koordinierten Einflussoperationen" im Zusammenhang mit der vom russischen Staat geförderten "Internet Research Agency" beteiligt seien. Google habe außerdem fast 300 Websites nicht mehr angezeigt, die mit staatlich finanzierten Propagandaseiten verknüpft sein sollen.
Der Konzern Meta habe seine Partnerschaften zur Faktenprüfung auf 22 Sprachen ausgeweitet. Auch TikTok habe seine Bemühungen, Fakten zu prüfen, auf Russisch, Belarusisch, Ukrainisch und 17 weitere Sprachen ausgedehnt. 832 Videos mit Bezug zum Krieg in der Ukraine seien einer Faktenprüfung unterzogen worden. 211 Beiträge bestanden diese Prüfung demnach nicht und seien daraufhin entfernt worden.
Kreml könnte vor Wahlen "besonders aktiv werden"
"Der russische Staat hat sich auf einen Krieg der Ideen eingelassen, um Halbwahrheiten und Lügen zu verbreiten", warnte Jourova. "Russland will die Menschen Glauben machen, dass Demokratie nicht besser ist als Autokratie." Sie forderte die Unternehmen dazu auf, sich "diesem Risiko zu stellen, denn wir müssen damit rechnen, dass der Kreml und andere vor den Wahlen besonders aktiv werden".
Während sich die Europäer darauf vorbereiteten, jetzt und im Jahr 2024 in die Wahllokale zu gehen, müssten alle Akteure ihren Teil zur Bekämpfung ausländischer Einmischung leisten, um "unsere Onlinedebatten zu schützen".
Der französische EU-Kommissar für Dienstleistungen, Thierry Breton, nannte die "Integrität der Wahlen in Europa als Priorität bei der Durchsetzung des Digital Service Act", der die rechtliche Grundlage für Internetdienstleistungen in Europa bildet. Der EU-Kodex gegen Desinformation hat nach Angaben der EU-Kommission 44 Unterzeichner, darunter große Online-Plattformen wie Facebook, Google, YouTube, TikTok oder LinkedIn, aber auch die Werbebranche ist vertreten und eine Fülle von Organisationen aus der Zivilgesellschaft.
Russland wies vorherige Vorwürfe als absurd zurück
Die Vorwürfe gegen Russland sind nicht neu. Schon nach den vergangenen Wahlen zum Europaparlament im Jahr 2019 waren sie aufgekommen. Damals - noch vor dem großflächigen Angriffskrieg gegen die Ukraine - hatte der russische Sicherheitsrat den Vorwurf, Russland habe Desinformationen verbreitet, als absurd zurückgewiesen.
Im Februar dieses Jahres räumte der mutmaßlich gestorbene Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, ein, die "Internet Research Agency" gegründet zu haben. Laut US-Regierung handelt es sich dabei um eine "Desinformationsfarm" die sich bereits in US-Präsidentschaftswahlen einmischte - unter anderem jener Wahl 2016, aus der Donald Trump siegreich hervorging. Diese Agentur steht jetzt auch wieder im Fokus der EU-Kommission.
"Musk ist mit Abkehr nicht aus dem Schneider"
Gegen X sprach Jourova eine Warnung aus: Auch dieses Unternehmen müsse sich als "sehr große Onlineplatform" an die gültigen Inhaltsregeln des Digital Servive Act halten. Im Mai hatte X dem freiwilligen Kodex der EU gegen Desinformation den Rücken gekehrt und war ausgetreten.
"Herr Musk weiß, dass er mit der Abkehr vom Verhaltenskodex nicht aus dem Schneider ist", warnte Jourova, "er muss sich an die strengen Gesetze halten, und wir werden genau beobachten, was er macht".