Vor zweiter Wahlrunde Frankreichs "Hol mir den Chef"-Syndrom
Kaum ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt hat so viel Macht wie der Präsident Frankreichs. Was in der Krise schnelles Handeln erlaubt, schürt bei den Franzosen zunehmend Frust. Die abgeschlagene Linke will jetzt nutzen.
Die Präsidentschaftswahl in Frankreich ist das wichtigste politische Ereignis im Land und wird auch als Rendez-vous zwischen dem Volk und seinem zukünftigen Staatsoberhaupt bezeichnet. Dafür gesorgt hat: Präsident Charles de Gaulle.
Der Anführer des freien Frankreich im Zweiten Weltkrieg ist zum Übervater der Nation geworden und gilt als Retter der Republik. Die war zerrüttet vom Parteienstreit und atemlosen Regierungswechseln, bis de Gaulle 1958 die V. Republik gründete - mit einem sehr mächtigen Präsidenten.
Das Staatsoberhaupt ernennt den Premierminister aus den Reihen der Mehrheitsfraktion, kann die Nationalversammlung auflösen, ist dem Parlament keine Rechenschaft schuldig und nach Artikel 16 der Verfassung berechtigt, in Krisensituationen die Exekutiv- und Legislativgewalt auf sich ziehen.
1962 bekam de Gaulle seinen Willen - in einem Referendum stimmten die Franzosen für eine Direktwahl des Präsidenten.
De Gaulle wollte mehr
Doch diese Macht reichte de Gaulle nicht. Er wollte vom Volk direkt gewählt werden: "Denn nur so garantieren wir die Beständigkeit, die Stärke und die Schlagkraft an der Spitze des Staates", begründete er es damals. "Nichts ist republikanischer, demokratischer und französischer als die Direktwahl des Präsidenten - denn sie ist klar, einfach und gradlinig."
Die schließlich 1962 per Referendum beschlossene Direktwahl verschaffte dem Präsidenten eine noch größere Legitimität - und eine sehr spezielle Beziehung zu seinem Volk.
Küren und antanzen lassen
"Die Franzosen haben ein Syndrom: Das 'Hol mir den Chef'-Syndrom. Wenn der Kaffee nicht schmeckt, lassen sie den Chef des Ladens antanzen. Darum geht’s bei den Präsidentschaftswahlen: Man ernennt den Boss", erklärt Jerome Fourquet vom Meinungsforschungsinstitut IFOP.
Die Präsidentschaftswahlen seien "hyperpersonalisiert", meint er: "Man legt auf den Schultern eines Mannes oder einer Frau die Hoffnungen einer ganzen Nation ab. Wir haben die Wahlen und danach wachen wir immer mit einem Kater auf. Alle hoffen auf Superman, der die Klamotten von de Gaulle überwirft und alle Probleme regelt."
"Flitterwochen-Effekt" bei Parlamentswahlen
Doch das führe zu überzogenen Erwartungen und herben Enttäuschungen - und zu wachsender Politikverdrossenheit. Je machtvoller der Präsident, desto machtloser fühlen sich die Französinnen und Franzosen.
Der Einfluss des Präsidenten ist seit einer Wahlrechtsreform im Jahr 2000 noch größer geworden: Seither finden die Parlamentswahlen immer erst nach den Präsidentschaftswahlen statt. Das hat dazu geführt, dass im Parlament stets die Präsidentenpartei gewinnt - der sogenannte Flitterwochen-Effekt.
Das Mehrheitswahlrecht verstärkt diese Dynamik noch: Der Präsident ernennt aus den Reihen der Mehrheitsfraktion den Premierminister, so dass die beiden wichtigsten Ämter - Staats- und Regierungschef - zuletzt immer von derselben Parteienfamilie besetzt waren.
Mélenchon träumt von Cohabitation
Damit müsse jetzt Schluss sein, sagt Jean-Luc Mélenchon. Der Kandidat des extrem linken Lagers schied als knapp Drittplatzierter in der ersten Wahlrunde aus dem Rennen. Er ruft die Französinnen und Franzosen dazu auf, die Parlamentswahlen im Juni zu nutzen, um endlich wieder ein Gegengewicht zum Gewinner der Präsidentschaftswahlen zu schaffen:
Wir müssen diese Parlamentswahlen in gewisser Weise zur 3. Runde der Präsidentschaftswahlen machen. Ich rufe alle Franzosen auf, unsere linke Sammlungsbewegung zu wählen, ihr eine Mehrheit zu verschaffen, so dass ich Premierminister werden kann.
Frankreich hätte in diesem Fall einen extrem linken Premierminister, der dann an der Seite eines sozialliberalen Präsidenten Macron oder einer extrem rechten Präsidentin Le Pen regieren würde. Cohabitation heißt dieses Zusammenspiel.
Der Elysée hätte nicht mehr freie Hand, die Machtfülle des Präsidenten wäre eingeschränkt, die linken Wählerinnen und Wähler hätten nicht mehr das Gefühl, im demokratischen Prozess völlig übergangen zu werden. Und: Die präsidiale Republik wäre ein bisschen weniger präsidial.