Unruhen in Frankreich "Die Gewalt hat eine andere Qualität"
Frankreich kommt nach dem Tod eines Teenagers durch Polizeigewalt nicht zur Ruhe. Im Gespräch mit den tagesthemen erklärt Frankreich-Experte Jacob Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die Gründe für die Unruhen.
tagesthemen: Von 2005 bis heute hat es immer wieder Straßenkämpfe in Frankreich gegeben, vor allem in den Vorstädten. Und man weiß ja, dass genau in diesen "Banlieues" viele Menschen ohne Perspektive leben. Hat sich denn da wirklich gar nichts getan?
Jacob Ross: Man hat jedenfalls den Eindruck. Nicht nur in Paris, sondern eigentlich in allen großen französischen Städten gab es wiederholt solche Situationen seit 2005. Was sich verändert hat, ist, dass sich heute die Proteste und Ausschreitungen über soziale Medien koordinieren. Dort findet ein großer Austausch unter Jugendlichen statt. Zum Beispiel über Snapchat, wo sich dann verabredet wird, sich an gewissen Plätzen zu treffen. Das ist mit Sicherheit ein großer Unterschied. Aber im Kern, und was die Probleme angeht, hat sich nicht viel verändert.
Hohes Gewaltpotenzial auf beiden Seiten
tagesthemen: Und die Polizei scheint sehr hart vorzugehen, statt zu deeskalieren. Wie groß ist das Problem der Polizeigewalt in Frankreich?
Ross: Seit Jahren wird versucht, damit umzugehen, von Seiten des Gesetzgebers und auch von Seiten der Polizeigewerkschaften. Zuletzt war das 2018 und 2019 während der Gelbwesten-Proteste ein Thema, wo es wirklich sehr gewalttätige Zusammenstöße gab.
Die französische Polizei ist eine der wenigen Polizeien in Europa, die zum Beispiel Gummigeschosse verschießt. Sie setzt bei Demonstrationen auch sehr oft und vielleicht exzessiv Tränengas ein.
Auf der anderen Seite aber gibt es auch viel Gewalt, die in Frankreich eine andere Qualität als vielleicht in Deutschland hat. Die Polizisten sehen sich dem Bewurf mit Geschossen gegenüber, mit kiloschweren Kugeln, solchen Betonkugeln, Molotowcocktails, und teilweise sind auch Waffen im Spiel, Schusswaffen, auch Hieb- und Stichwaffen. Es gibt Videos von den jetzigen Ausschreitungen, wo Menschen zu sehen sind, die mit automatischen Gewehren hantieren, damit in die Luft schießen.
In Frankreich gibt es eine andere Sensibilität für solche Gewalt. Denn wir erinnern uns an die Terroranschläge von 2015, wo im Zentrum von Paris Terroristen mit automatischen Waffen für kriegsähnliche Zustände gesorgt hatten. All das haben die Polizisten im Hinterkopf. Das sorgt dafür, dass auch diese Ausschreitungen jetzt wieder extrem gewalttätig sind.
Jacob Ross ist Experte für französische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er hat in Frankreich studiert und beobachtet die Polarisierung zwischen den großen französischen Städten und einigen ihrer Vororte seit Jahren.
Umstrittenes Polizeigesetz
tagesthemen: Welche Rolle spielt das Polizeigesetz, das es seit 2017 gibt und das einen lockereren Einsatz, sage ich mal salopp, von Schusswaffen erlaubt?
Ross: Ja, diese Diskussion beginnt jetzt gerade. Sie ist auch schon in die französische Nationalversammlung zu den Gesetzgebern hineingetragen worden. Dieses Gesetz wurde 2017 erlassen, noch unter der Vorgängerregierung Macrons, unter Präsident François Hollande. Es hat den Gebrauch von Schusswaffen in solchen Situationen wie der, in der jetzt dieser 17-Jährige getötet wurde, gelockert. So ist jedenfalls die Sichtweise vieler Kritiker, dass sich diese Unfälle oder eben Tötungen - das muss nun ein Gericht entscheiden - gehäuft haben. Es wird darüber diskutiert, wie man dieses Gesetz schnell wieder ändern kann, um eben solche Fälle in Zukunft hoffentlich zu vermeiden.
Rapper und Fußballer appellieren an Jugendliche
tagesthemen: Nun gibt ja sogar Präsident Macron sehr klar zu verstehen, dass es erstens inakzeptabel sei, dass der Polizist in diesem jüngsten Fall geschossen hat, und dass dieses Gesetz so nicht bleiben kann. Aber das scheint die Menschen im Moment nicht zu beruhigen. Wie könnte es gelingen, die Lage zu befrieden?
Ross: Ja, es wird offensichtlich, dass das Statement des Innenministers von den sehr jungen Protestlern oder Randalierern nicht gehört wird. Und so geht die Regierung, glaube ich, neue Wege. In den vergangenen zwei Tagen hat sich das vermehrt gezeigt: Es gab ein Statement der französischen Fußballnationalmannschaft, in dem sie dazu aufruft, eben ruhig zu bleiben und in der Nacht zu Hause zu bleiben.
Auch viele französische Rapper haben sich zu Wort gemeldet, die vielleicht einen anderen Einfluss auf diese Jugendlichen haben. Auch sie rufen dazu auf, eben nicht Autos und Gebäude anzuzünden, zu plündern und damit am Ende vor allem denjenigen zu schaden, die in diesen Vorstädten leben. Die Schwierigkeiten haben, ins Zentrum zu kommen, um zu arbeiten. Die auf ihre Autos angewiesen sind und die jetzt am meisten unter dieser Randale und diesen Zerstörungen leiden.
Das Interview führte Caren Miosga, tagesthemen. Es wurde für die schriftliche Fassung leicht angepasst.