EU-Parlament feiert Jubiläum 70 Jahre und kein bisschen leise
Angefangen haben die EU-Parlamentarier vor 70 Jahren klein, nicht nur zahlenmäßig: Befugnisse hatte das EU-Parlament zu Beginn kaum. Erst mit der Zeit erkämpfte es sich mehr Macht.
Am Anfang stand die Montanunion, die gemeinsame Aufsicht über Kohle und Stahl. Frankreich wollte Deutschlands Schwerindustrie unter Kontrolle behalten. Ein Parlament war dabei zuerst gar nicht vorgesehen, jedenfalls nicht auf französischer Seite. Konrad Adenauer setzte das durch: "Europa muss geschaffen werden. Und Europa wollen wir schaffen."
Im Herbst 1952, vor siebzig Jahren, trafen sich zum ersten Mal 78 Abgeordnete aus den sechs Gründungsländern - aus Frankreich, Deutschland, Italien und den drei Benelux-Ländern. Keiner der Abgeordneten ist direkt gewählt, alle sind von ihrer Regierung entsandt. Und mitentscheiden dürfen die Volksvertreter auch noch nicht - sie sollen nur beraten.
Selbstbewusst von Anfang an
Aber das war den meisten schnell zu wenig. Der italienische Abgeordnete Altiero Spinelli, ein Mann des kommunistischen Widerstands gegen Mussolini, brachte auf den Punkt, was die meisten seiner Kollegen in der ersten Parlamentarischen Versammlung sich erhofften: "Es ist unmöglich zu denken, dass ein gewähltes Parlament sich begnügen wird mit den jetzigen Befugnissen."
Unterstützung bekommen die Abgeordneten von Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Brüsseler Kommission - damals noch der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinsaft EWG: "Dass es sich bei unserer Gemeinschaft um eine neue Größe, um eine neue Einheit im Leben der Völker handelt, drückt sich vielmehr vor allem in der Existenz dieses Hohen Hauses und in der Rolle aus, die ihm zugedacht ist."
Das Europaparlament in Brüssel, hier zur Europawahl 2019 in ein Wahlstudio verwandelt.
Erster Erfolg: Das Haushaltsrecht
Das Hohe Haus erstreitet sich Rechte - eins nach dem anderen. Ein Meilenstein ist dabei das Haushaltsrecht: Seit 1975 können die Abgeordneten den milliardenschweren Gemeinschaftshaushalt ablehnen - damit wird ihre Zustimmung unverzichtbar für die Kommission und auch für die Mitgliedsländer.
Vier Jahre später wieder ein Meilenstein, die Direktwahl. 1979 können die Bürger Europas zum ersten Mal ihre Volksvertreter direkt und in freier Wahl bestimmen. Das Parlament wächst, mit jeder Erweiterungsrunde kommen neue Abgeordnete dazu. Und damit wächst auch die Kritik am "Straßburg-Zirkus", jener Vereinbarung der Gründungsväter, nach der das gesamte Europaparlament zwölf Mal im Jahr und dann für eine Woche in Straßburg tagen muss.
Pendeln nach Straßburg - ein teurer Spaß
"Mit Brüssel, Luxemburg und Straßburg hat das Europaparlament drei Sitze", erklärte Nicole Fontaine, Französin und Präsidentin des Europaparlaments vor rund zwanzig Jahren und versuchte damals eine Begründung: Straßburg erfülle eben "einen ganz spezifischen Zweck, nämlich den des Esprit und der Erinnerung".
Esprit und Erinnerung lassen die Europäer sich Einiges kosten. Der Wanderzirkus ist teuer, das regelmäßige Pendeln der Abgeordneten inklusive Mitarbeitern summiert sich auf mehr als 100 Millionen Euro jedes Jahr. Der Streit darüber ist zu einem Evergreen der Parlamentsdebatten geworden, regelmäßig wird darüber neu debattiert. So sicher wie die Wiederkehr der Kontroverse ist ihr Ausgang: Straßburg bleibt Parlamentssitz, Frankreich würde einer Abschaffung niemals zustimmen.
Heute bestimmen EU-Parlamentarier mit
70 Jahre nach den ersten parlamentarischen Gehversuchen ist das Europaparlament heute weltweit die einzige supranationale und direkt gewählte Volksvertretung. "Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa" - diesen früher oft bemühten Spruch hört man heute seltener. Die inzwischen 705 Abgeordneten aus 27 Mitgliedsländer geben sich machtbewusst. Sie können Kommissions-Kandidaten durchfallen lassen und tun das auch - die Regierungen in den Hauptstädten müssen dann neue Bewerber für den Einzug in die Brüsseler Kommission schicken.
Europaabgeordnete gestalten längst auch die Bedingungen für den globalen Handel mit. Angela Merkel bekam das zu spüren, als ihr Lieblingsprojekt eines Investitionsabkommens mit China 2021 vom Parlament auf Eis gelegt wurde - die Mehrheit der Abgeordneten fand Pekings anhaltende Menschenrechtsverletzungen schlicht inakzeptabel.
Das Parlament zeigt Selbstbewusstsein auch gegenüber den nationalen Parlamenten. Der Bundestag zum Beispiel kann schon lange nicht mehr machen, was er will. Immer öfter muss er Richtlinien umsetzen, die die Kollegen im Europaparlament auf den Weg gebracht haben.
Flaggen wehen vor dem Gebäude des EU-Parlaments in Straßburg.
Mehr Freiheiten für Abgeordnete
"Als Europaabgeordneter hat man durchaus auch große Freiheiten", sagt Moritz Körner, FDP-Europaabgeordneter aus Düsseldorf. "Weil es eben keinen Koalitionsvertrag gibt oder Fraktionsdisziplin, die einen so binden. Sondern man kann bei verschiedenen Themen unterschiedliche Mehrheiten suchen, über Fraktionsgrenzen hinweg arbeiten."
Der FDP-Politiker hat gute Erfahrungen mit Bündnissen über die Fraktionsgrenzen hinweg gemacht. Als Liberaler hat er zusammen mit dem Grünen-Politiker Daniel Freund das wohl wichtigste Gesetzeswerk der vergangenen Jahre vorangetrieben: Den Rechtsstaatsmechanismus, der die Veruntreuung von EU-Geldern durch Mitgliedsländer unter Strafe stellt.
"Der Rechtsstaatsmechanismus, den wir jetzt haben, ist nur gekommen durch den Druck auch des EU-Parlaments. Da haben gemeinsam Abgeordnete fraktionsübergreifend immer wieder Druck gemacht. Und dafür gesorgt, dass die Kommission den jetzt auch endlich anwendet", sagt Körner.
Die Entscheidung liegt am Ende aber immer noch bei den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer. Da stoßen die Abgeordneten an Grenzen, sagt Körner, es sei immer noch viel zu tun. Auch nach 70 Jahren.