Reaktionen auf Verdacht gegen Kaili "Vorwürfe sind sehr schwerwiegend"
In der EU herrscht angesichts der Korruptionsvorwürfe um Parlamentsvize Kaili Entsetzen. Es dürfte politische Konsequenzen geben - für sie, aber auch die Beziehungen zu Katar. Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Räume des EU-Parlaments durchsucht.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angesichts der Korruptionsvorwürfe gegen die sozialdemokratische EU-Parlamentsvize Eva Kaili und weitere Personen die Bildung eines Ethikrats zur Überwachung von EU-Institutionen ins Spiel gebracht. Die Vorwürfe seien äußerst bedenklich und "sehr schwerwiegend", sagte sie. Die EU brauche "die höchsten Standards" bei Unabhängigkeit und Integrität.
Ausweichend antwortete die deutsche Kommissionschefin auf Fragen nach einer möglichen Verwicklung ihrer EU-Kommission in den Skandal. "Wir haben sehr klare Regeln für alle Kommissare und schauen uns das an", sagte sie.
Vor allem der griechische Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas ist in den Fokus gerückt: Der für die "europäische Lebensart" und Migration zuständige Kommissar hatte Katar gemeinsam mit Kaili zur Eröffnung der Fußball-WM besucht und sich mit Regierungsmitgliedern getroffen. Katar habe "beträchtliche und greifbare Fortschritte bei den Arbeitsreformen erzielt", die auch nach der WM "fortgesetzt und wirksam umgesetzt werden müssen", äußerte er damals.
Doch keine Visa-Liberalisierung für Katar?
Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von "sehr, sehr besorgniserrgenden" Vorwürfen gegen Kaili. Parlamentsvize Rainer Wieland von der CDU sagte der Nachrichtenagentur Reuters zudem, er gehe davon aus, dass das Parlament die für Montag vorgesehene Abstimmung über die Visa-Liberalisierung für Katar von der Tagesordnung nehmen werde. "Das ist wahrscheinlich und wäre ein erstes starkes politisches Signal." Ähnlich hatten sich zuvor Politiker anderer Parteien geäußert.
Das Parlament kam heute zu seiner letzten Plenarwoche des Jahres in Straßburg zusammen. Es wird erwartet, dass Parlamentspräsidentin Roberta Metsola sich zu den Enthüllungen äußert.
Die Fraktionsführung der Sozialdemokraten hatte schon angekündigt, dass sie Kaili als Vizepräsidentin ersetzen müsse. Über einen solchen Antrag muss zunächst die sogenannte Konferenz der Präsidenten entscheiden, anschließend muss das Plenum des Parlaments mit Zweidrittel-Mehrheit zustimmen.
Scholz reagiert "mit dem erwartbaren Entsetzen"
Auch aus der Bundespolitik kommt scharfe Kritik. Kanzler Olaf Scholz zeigte sich angesichts der Berichte alarmiert. Der Kanzler verfolge dies "mit dem erwartbaren Entsetzen, dass so etwas offenbar möglich ist", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die Aufarbeitung liege aber nicht bei den EU-Nationalstaaten, sondern auf europäischer Ebene.
Außenministerin Annalena Baerbock sprach vor dem Treffen der EU-Außenminister von einem "unglaublichen Vorfall". "Der muss jetzt ohne Wenn und Aber aufgeklärt werden, mit der vollen Härte des Gesetzes." Es gehe hier um die Glaubwürdigkeit Europas.
SPD-Chef Lars Klingbeil forderte einen sofortigen Ausschluss der betroffenen Personen aus dem EU-Parlament. "Das muss jetzt schnellstmöglich aufgeklärt werden, auch wie weit diese Verquickungen gehen", sagte Klingbeil. "Das ist nicht erklärbar, nicht duldbar. Die Personen vertreten keine sozialdemokratischen Werte, die müssen raus aus unserer Partei", sagte er mit Blick auf Kaili.
"Korruptionsskandal von unvorstellbarem Ausmaß"
Michiel van Hulten von der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International sieht in den Enthüllungen einen "Korruptionsskandal von unvorstellbarem Ausmaß". Er habe so etwas in den vergangenen Jahren nicht erlebt. "Und das geht zurück in die Zeit, in der ich selbst EU-Parlamentarier war in den späten Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts", sagte van Hulten.
Und doch komme das Ganze für ihn nicht wirklich überraschend. Abgeordnete des Europäischen Parlaments würden von Lobbyisten immer wieder regelrecht bedrängt. Unabhängigkeit bleibe da gerne einmal auf der Strecke - nicht alle würden sich immer an die Regeln halten, das könne durchaus zu solchen Auswüchsen führen:
Wir haben in den vergangenen Jahren viel Zeit damit verbracht, das Europäische Parlament davon zu überzeugen, dass es seine eigenen Regeln strenger fassen muss. Aber das ist schwierig, denn der Widerstand dagegen ist einfach zu stark.
Transparency verlangt eine grundlegende Reform der Regeln. Andere dagegen verweisen darauf, dass die Vorschriften für Transparenz und Unabhängigkeit schon jetzt sehr hoch seien. Dass jemand versuche, diese mit viel krimineller Energie zu umgehen, lasse sich nicht vollständig verhindern, argumentiert beispielsweise Katarina Barley, deutsche Europaparlamentarierin der SPD und ebenfalls eine der Parlamentsvizepräsidentinnen.
600.000 Euro Bargeld beschlagnahmt
Inzwischen durchsuchten Ermittler auch Räume im EU-Parlament in Brüssel, wie die belgische Staatsanwaltschaft mitteilte. Dabei seien Daten von Computern von zehn parlamentarischen Mitarbeitern beschlagnahmt worden. Die Computer seien demnach seit Freitag "eingefroren" worden, um zu verhindern, dass für die Ermittlung benötigte Daten verschwinden können. Bereits am Sonntag hätten in Italien Razzien stattgefunden, hieß es.
Insgesamt hat es der Staatsanwaltschaft zufolge seit Beginn der Ermittlungen bereits 20 Durchsuchungen gegeben - 19 in Büros und Wohnräumen sowie eine im Europaparlament selbst. Dabei wurden 600.000 Euro im Wohnsitz eines Verdächtigen gefunden, mehrere Hunderttausend Euro in einem Koffer in einem Brüsseler Hotel sowie 150.000 Euro in der Wohnung eines EU-Abgeordneten. Der Name wurde nicht genannt.
Vier Personen festgenommen
Vier Personen wurden festgenommen, wie die belgische Staatsanwaltschaft am Sonntag mitteilte. Zu ihnen soll auch die griechische Abgeordnete Kaili gehören. EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola entband sie von ihren Pflichten, die griechischen Sozialdemokraten schlossen sie aus der Partei aus. Die griechischen Behörden wiederum froren ihr Vermögen ein.
Laut Brüsseler Staatsanwaltschaft besteht der Verdacht, dass das Emirat Katar mit beträchtlichen Geldsummen und Geschenken versucht hat, Entscheidungen des EU-Parlaments zu beeinflussen. Katar dementiert dies. Kaili hatte sich mehrfach lobend über das Emirat geäußert.
Skandal dürfte EU-Skeptikern in die Hände spielen
Das Europaparlament ist in den vergangenen Jahren in Brüssel die Stimme gewesen, die sich ganz besonders für den Rechtsstaat in Europa und gegen die Korruption eingesetzt hat. Dass es dort nun ausgerechnet in den eigenen Reihen einen Korruptionsskandal gibt, dürfte deshalb vor allem denjenigen in die Hände spielen, die Brüssel und die europäischen Institutionen immer schon höchst skeptisch gesehen haben.
Beispielsweise Victor Orban in Ungarn. Ab Mittwoch wollen Europas Staatschefs eigentlich darüber entscheiden, ob Orbans Regierung Gelder aus Brüssel gestrichen werden, weil er europäische Grundregeln missachte. Auch, wenn es um Korruption geht. Diese Debatte dürfte jetzt eine neue Dimension bekommen. Eine, mit der niemand gerechnet hat.