Wandgemälde in Belfasts Shankill Road
Reportage

Nordirland-Konflikt Die Mona-Lisa-Gewehre der Shankill Road

Stand: 06.12.2021 05:04 Uhr

Der Anglo-Irische Vertrag teilte vor 100 Jahren die Insel, brachte aber keinen Frieden. Bis heute gibt es in Nordirland Gewaltausbrüche - von London fühlen sich die meisten vergessen. Ein Besuch in Belfast bringt den Konflikt ganz nah.

"Ich habe einen Friedensvertrag unterzeichnet zwischen Irland und Großbritannien. Ich glaube, der Vertrag wird die Grundlage sein für Frieden und Freundschaft zwischen den beiden Nationen", schrieb der irische Außenminister Arthur Griffith im Dezember 1921 in einer Notiz, die er später der Presse zukommen lassen wollte. Sie war auch eine Rechtfertigung - und Griffith lag richtig mit der Einschätzung, dass dieser Vertrag erklärungsbedürftig war. Denn das Dokument, das den Unabhängigkeitskrieg auf der Insel beendete, jedoch auch die Teilung in den nördlichen und den südlichen Teil verfestigte, fand in den Reihen der Iren nicht nur Befürworter.

Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) teilte sich, die Gegner empfanden den Vertrag als Verrat an der Einheit der irischen Nation, die Unterzeichnung war der Auftakt für einen Bürgerkrieg. Michael Collins, der damals selbst der irischen Delegation angehörte, wurde 1922 von Gegnern des Vertrags in einem Hinterhalt getötet. Der Konflikt um Nordirland hält bis heute an.

Erst Anfang November brach in Belfast erneut Gewalt aus. Zwei Busse wurden in Brand gesetzt. Die Polizei vermutete die Attentäter in den Reihen einer protestantisch-unionistischen Miliz. Jugendliche randalierten auf beiden Seiten der "Peacelines", meterhoher Absperrungen, die die beiden Gemeinden voneinander trennen, und warfen in der hauptsächlich von Protestanten bewohnten Shankill-Road Feuerwerkskörper auf Polizisten. Und auch auf der anderen Seite der Mauer gab es Randale. Die Polizei verhaftete unter anderem zwei Jugendliche, zwölf und 15 Jahre alt, weil sie sich an den Randalen beteiligt haben sollen.

Wandgemälde feiern Kämpfer wie Helden

Der Konflikt zwischen Republikanern und Unionisten ist besonders in Belfast noch sichtbar. Dort gibt es um die 80 "Peacelines". Eine der längeren Absperrungen trennt die Bevölkerungsgruppen im Westen Belfasts in der Nähe der Shankill Road. Hier fährt Tom Hanna für ein Unternehmen Gäste in einem schwarzen Taxi durch Belfast, die sich die "Peacelines" anschauen wollen. Er erzählt von der Teilung, der Zeit der "Troubles", der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen radikalen Republikanern und Unionisten.

Tom Hanna

Tom Hanna verdient sein Geld mit Touren durch Belfast.

Eine der vielen riesigen Wandmalereien zeigt William McCullough. Er sei 1981 von Republikanern getötet worden, sagt Tom Hanna. Hier in der protestantischen Gegend sei er ein Held. McCullough gehörte einer paramilitärischen Vereinigung an, der Ulster Defence Association (UDA).

Auf einem anderen Wandbild sind zwei paramilitärische Kämpfer zu sehen, die Schusswaffen angelegt, auf den Betrachter gerichtet. "Wir nennen sie die Mona Lisas der Shankill Road", sagt Tom. Egal von woher man das Bild anschaut, das Gewehr ist immer auf den Betrachter gerichtet - wie die Augen der Mona Lisa.

Wandgemälde in Belfasts Shankill Road

Egal aus welchem Winkel - ein Gewehrlauf ist immer auf die Betrachter gerichtet: Die "Mona Lisas" in Belfasts Shankill Road.

Braucht es die "Peacelines" noch?

Trotz der bedrohlichen Bilder, der Ausschreitungen, der Stahltore, die nachts geschlossen werden, damit keine Randalierer in die angrenzenden Viertel kommen: Seit dem Friedensabkommen von 1998 sei vieles besser geworden, sagt Hanna. Davor gab es hier noch Straßensperren, immer wieder Polizeikontrollen, Hubschrauber, die die Lage beobachtet haben. Hanna hat Hoffnung, wenn er die junge Generation anschaut: "Die jüngeren kommen aus ihren Vierteln raus. Sie treffen sich im Stadtzentrum. Sie durchmischen sich."

Braucht es da diese Absperrungen noch? "Wenn du mit jemandem sprichst, der an einer Mauer lebt, wird der sagen: Ich bin froh, dass es diese Mauer gibt - für meine Sicherheit", sagt Jonny Byrnne vom Institut für Soziologie der Ulster Universität Belfast. Für die nächste Generation wünsche sich aber jeder, dass die Mauern verschwinden.

Meterhohe befestigte Mauern, sogenannte "Peacelines", laufen mitten durch Belfast.

Die Anwohner der "Peacelines" seien froh, dass es sie gibt, mein Tom Hanna - auch wenn die Jugend sie schon nicht mehr brauche.

Zwei Lager: Unionisten und Republikaner

Aber wie? Byrne sagt, nach dem Friedensabkommen von 1998 sei es als Erfolg gewertet worden, dass es keine oder bedeutend weniger Gewalt gebe - die drängenden Fragen aber habe man nie geklärt: "Warum gab es diesen Konflikt? Warum leben Menschen mit einem katholischen und einem protestantischen Hintergrund getrennt voneinander? Warum besuchen die unterschiedliche Schulen? Warum sind wir eine gespaltene Gesellschaft?"

In der Politik stehen sich Unionisten und Republikaner nach wie vor gegenüber. Die unausgesprochene Frage: Wird die Bande zwischen Nordirland und Großbritannien halten? Oder ist möglicherweise eine Vereinigung von Nordirland mit der Republik Irland wahrscheinlich?

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union hat diese Debatte neu entfacht. Der Vorsitzende der Democratic Unionist Party (DUP), Jeffrey Donaldson, ist enttäuscht von der britischen Regierung, weil Premierminister Boris Johnson eine Warengrenze in der Irischen See eingerichtet hat. Das Nordirland-Protokoll schädige alle in Nordirland, meint Donaldson. Die pro-britische DUP hatte dem Brexit zugestimmt - vielleicht auch deshalb fühlen sich viele Protestanten in Nordirland von der Regierung im fernen London verraten.

Wie kann ein "neues Irland" aussehen?

Das Friedensabkommen von 1998 sieht die Möglichkeit vor, ein Referendum über einen Zusammenschluss durchzuführen. Viele Republikaner sind der Ansicht, es sei nur noch eine Frage der Zeit. Aktuelle Umfragen zeigen: 49 Prozent der Menschen sind derzeit für einen Verbleib im Vereinigten Königreich, 42 Prozent sind für ein vereinigtes Irland, so das Ergebnis einer Umfrage für die Tageszeitung "The Guardian" im August.

John Finucane, ehemaliger Bürgermeister von Belfast, gewann 2019 bei den Wahlen zum britischen Unterhaus den Wahlkreis Belfast-Nord für Sinn Fein - erstmals in der Geschichte. Davor ging der Wahlkreis immer an die DUP. Sinn Fein will die Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland, fordert im Parteiprogramm ein Referendum. Im nordirischen Regional-Parlament, argumentiert Finucane, hätten die Unionisten längst die Mehrheit verloren. "Die Vereinigung würde eine Möglichkeit eröffnen, wieder Teil der Europäischen Union zu werden", sagt er.

Bevor es ein Referendum geben kann, will er die Fragen beantworten, die aus seiner Sicht für viele Menschen zentral sind: Was würde eine Vereinigung für das Rentensystem bedeuten? Wie soll das Gesundheitssystem aussehen? "Wir brauchen einen präzisen Plan, wie das neue Irland aussehen soll", sagt er. "Ich sage das bewusst so. Es geht nicht darum, eine Linie auf einer Karte auszuradieren."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 07. Dezember 2021 um 03:33 Uhr.