Rechtsstaatlichkeit Polens gestörtes Verhältnis zum EU-Recht
In Brüssel ist man sich einig: Polen hat schon mehrfach gegen EU-Recht verstoßen. Heute fällt der EuGH nun ein richtungsweisendes Urteil zur Rechtsstaatlichkeit des Landes.
Selbst Experten geben zu, dass sie langsam den Überblick verlieren. So oft hat Polen schon gegen Europäisches Recht verstoßen, so oft hat die Brüsseler EU-Kommission die Regierung in Warschau schon verklagt, dass die Verfahren sich überlappen und zu einem unentwirrbaren Knoten geworden sind.
Dass die in Polen regierende PIS-Partei seit Jahren den Rechtsstaat untergräbt und politischen Druck auf die Gerichte ausübt - diese Kritik der Warschauer Demonstranten von gestern wird von der Brüsseler EU-Kommission zu 100 Prozent geteilt. Viele Urteile des Europäischen Gerichtshofes haben das auch längst bestätigt.
EuGH-Urteil zur Rechtsstaatlichkeit erwartet
Das Urteil, das der Europäische Gerichtshof heute spricht, ist aber ein besonderes Urteil. Denn es geht nicht nur um Recht, sondern auch um viel Geld.
Die von der polnischen Regierung eingerichtete Disziplinarkammer hat nach Einschätzung seiner Kritiker vor allem den einen Zweck, unabhängige Richter auf Linie zu bringen und - wenn sie allzu kritisch sind - zu bestrafen. Zum Beispiel mit einer Zwangsversetzung. Oder mit einer Verabschiedung in den vorzeitigen Ruhestand.
Tägliches Zwangsgeld
Der Europäische Gerichtshof hat das in einem ersten Schritt mit einem Zwangsgeld von einer Million Euro täglich bestraft. Die beispiellos hohe Summe wurde im April dieses Jahres halbiert, als Würdigung für erste Änderungen an dem Gesetz.
Die reichen aber noch längst nicht aus, findet der zuständige EU-Kommissar. “Trotz einer Reihe wichtiger positiver Veränderungen, bleiben ernste Vorbehalte und Sorgen“, gab Didier Reynders Ende der vergangenen Woche vor dem Europäischen Parlament zu bedenken. Bis heute habe Polen die Auflagen des Europäischen Gerichtshofs nicht erfüllt, für die Unabhängigkeit der Gerichte zu sorgen.
Nach Ansicht der Kommission hat sich die Lage für polnische Richter in der Zwischenzeit in Teilen sogar noch verschlimmert. Sie sollen nach dem Willen der Regierung ihre Causa nicht mal den Kollegen beim Europäischen Gerichtshof vorlegen können, ohne scharfe Strafmaßnahmen durch die von der Regierung eingesetzte Disziplinarkammer zu riskieren.
Polens Regierung stellt Rolle des EU-Rechts infrage
Aus Sicht der polnischen Regierung ist das nur folgerichtig. Denn die Regierung stellt seit einiger Zeit grundsätzlich in Frage, dass das Europäische Recht dem nationalen Recht übergeordnet ist.
Nicht nur der Innenkommissar wartet heute gespannt auf das Urteil. Es geht um die Frage, ob sich das Abdriften eines EU-Mitglieds in Richtung autoriträrer Regierungsstrukturen noch aufhalten lässt.
Zumal Polen nicht das einzige Land ist. Ungarn ist beim Abbau des Rechtsstaats nach einhelliger Einschätzung von Europarechtlern noch weiter. Beide Regierungen - die von Victor Orbàn in Budapest und die Regierung der PIS-Partei in Warschau - schaffen seit Jahren systematisch das ab, was den Europäischen Rechtsstaat ausmacht. Die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten zum Beispiel, aber auch die Rechte von Minderheiten. Journalisten, die darüber berichten wollen, werden regelmäßig drangsaliert - in Ungarn gibt es kaum noch Redaktionen, die unabhängig arbeiten könne.
Brüssel hält weiter Gelder zurück
Polen und Ungarn gehören in der Europäischen Union zu den größten Netto-Empfängerländern. Das heißt, die beiden Länder, die am meisten von EU-Fördergeldern profitieren, sind gleichzeitig die Länder, die das Recht der Union am häufigsten in Frage stellen.
Die Brüsseler Kommission hat daraus die Konsequenzen gezogen: Sie hält bis heute die Auszahlung von Millliardensummen zurück, die Polen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds eigentlich zustehen. Ob diese Gelder an Warschau ausgezählt werden, das wird entscheidend mit davon abhängen, wie der Europäische Gerichtshof heute entscheidet.