Lage an belarusischer Grenze "Schlimmer, als man es sich vorstellen kann"
Tausende Menschen verharren zwischen Belarus und Polen. Die, die es über die Grenze schaffen, sind ausgezehrt und schwach. Viele werden zurückgeschickt. Polnische Hilfsorganisationen berichten von dramatischen Zuständen.
Rettungsaktion am Sonntagabend im polnischen Topczykaly, einige Kilometer landeinwärts von der belarusischen Grenze: Eine Hilfsorganisation hat zwei syrische Brüder im Wald entdeckt, 39 und 41 Jahre alt, kaum noch in der Lage, ihre Namen zu sagen. Die Helfer umhüllen die unterkühlten Männer mit wärmenden Rettungsdecken. Auf den Aufnahmen ist einer von ihnen auf einer Trage zu sehen, mit geschlossenen Augen, der Puls scheint schwach.
Erst retten, dann zurückschicken
Ein Kamerateam der Nachrichtenagentur Reuters filmte das Geschehen. Für die vielen Reporter aus aller Welt sind die freiwilligen Helferinnen und Helfer die Brücke zu den Geflüchteten im Wald, die sich verstecken - ständig auf der Hut, nicht entdeckt zu werden, und kaum jemandem trauen. "Wir haben zwei Männer im Wald gefunden in sehr kritischem Zustand", sagt eine Aktivistin dem Reuters-Reporterteam. "Sie konnten nicht mit uns reden, also haben wir einen Krankenwagen gerufen."
Die Männer werden in den Wagen geladen und kommen ins Krankenhaus, verspricht ein Rettungssanitäter. Um dann, wieder bei Kräften, zurück nach Belarus gebracht zu werden.
"Alle wollen nur überleben"
Von dieser Praxis der Rückweisungen - inzwischen auch offiziell eingestanden - weiß die Welt auch durch die Aktivistinnen und Aktivisten, die das Schicksal der Menschen aus dem Wald oft nachverfolgen und Kontakt halten. Magdalena Lukczak etwa von der "Grenzgruppe" organisiert von einem kleinen Hotel in Grenznähe aus Hilfe. Sie eilt mit warmen Socken, Wasser oder Essen in die Wälder, wenn sie einen Tipp bekommt. Oder sie versucht, mit der Hilfe von Anwältinnen und Anwälten doch irgendwie ein Asylverfahren einleiten zu lassen, um die Rückweisungen zu verhindern. Manchmal klappt das sogar, etwa bei Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien.
Menschen von außerhalb, die diese Menschen wie eine Masse sehen, verstehen die konkreten Geschichten nicht und lassen sich alles einreden. Dass sie gefährlich seien, Sozialgeld wollten, einfach über den Grenzübergang gehen könnten. Wenn man aber hier ist, sieht man, dass es noch schlimmer ist, als man es sich vorstellen kann. Bevor ich hierher kam, habe ich Fotos gesehen, Geschichten gehört. Aber als ich hierher kam, mit den konkreten Geschichten konkreter Menschen, war klar, es ist noch schlimmer. Niemand will Sozialgeld. Alle wollen nur überleben und in ein sicheres Land.
Krise an der Grenze mobilisiert die Bevölkerung
Die Krise um Migration im hohen Nordosten Polens mobilisiert: Nationalisten schließen sich in Internet-Gruppen zusammen, um zu diskutieren, wie die Staatsgrenze gegen "Eindringlinge" am besten zu verteidigen sei. Andere wiederum fragen in Chats angesichts der Menschen in den Wäldern, wie man helfen könne: "Man muss doch was tun."
Gerade der dünn besiedelte Nordosten - durch Lukaschenkos Politik, sein Land zur Schleuserautobahn zu machen, und plötzlich in den Fokus der Weltpolitik geraten - erlebt eine Welle der Hilfsbereitschaft. Etwa in Michalowo. Der Ort wurde landesweit bekannt wegen der "Kinder von Michalowo": Kinder hinter dem Zaun eines Grenzschutzpostens, die eines Tages verschwanden. Die also auch zurückgeführt wurden an die Grenze, wie die Pushback-Praxis offiziell heißt.
Ringen um die Deutungshoheit
Michalowo war ein Super-Gau im Ringen um die Meinungs- und Emotionshoheit für die polnische Regierung. In Michalowo gingen reihenweise Sachspenden ein, die Stadt ließ eine Feuerwache als Wärmestube umrüsten.
"Für die Medien begann die Krise mit den Bildern von Migrantengruppen an der Grenze. Für uns früher, denn erste Migranten kamen schon früher und haben von unseren Einwohnern Hilfe bekommen. Wir appellierten auch an die Leute, zu helfen", sagt Konrad Sikora, Vizebürgermeister der Stadt. "Und als das Wetter schlechter wurde und uns klar wurde, dass die Leute da draußen frieren, haben wir sofort unsere Feuerwache hergerichtet."
In Michalowo gebe es seit jeher eine multikulturelle Gesellschaft und eine Tradition vieler Konfessionen, sagt Sikora. Hier hätten Juden, Deutsche, Protestanten, Katholiken gewohnt, bis heute lebten sie miteinander. Niemand schaue hier böse auf den anderen. "Vielleicht unterscheiden wir uns durch Multikulti vom Rest Polens", sagt Sikora. "Für uns ist das normal."
Viele freiwillige Helferinnen und Helfer
Auch die Orthodoxie spielt in dieser Region eine Rolle. Viele Familien haben selbst Erfahrungen mit Verfolgung und Flucht. Neben Anwohnerinnen und Anwohnern gibt es aber auch überregionale Gruppen, die mit Freiwilligen unterwegs sind. Wie die Organisation "Ärzte an der Grenze", die einen Rettungswagen im Einsatz hatten.
Nach Angriffen auf Autos der Gruppe haben sie aufgehört. Aber es gibt schon eine neue Initiative von Medizinerinnen und Medizinern, die nun ihrerseits bereit steht, um Erste Hilfe zu leisten. Die Gruppe heißt "Polnische Internationale Hilfe" und ist eine der größten Nichtregierungsorganisationen im Land.