Ukrainer suchen Verwandte in Polen Erst geflüchtet, dann vermisst
Auf der Flucht verloren viele Ukrainer ihre Familienangehörigen aus den Augen. Nun beginnt die Suche: Manche versuchen es mit Aufrufen im Netz, andere mithilfe der Polizei. Das Rote Kreuz rechnet mit zahlreichen Vermissten.
Tausende Anzeigen im Internet und Hunderte Anrufe bei der Polizei: Geflüchtete aus der Ukraine suchen ihre Angehörigen. Oft haben sie auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet ihre Familie an einem Bahnhof oder Grenzübergang verloren. "Die meisten sind Erwachsene", sagt Inspektor Mariusz Ciarka, Sprecher der polnischen Polizei. "Sie haben sich an den Grenzübergängen, in den Zügen und Umsiedlungsorten getrennt und ein bestimmtes Ziel ihrer Flucht gewählt. Später ändern sich die Pläne. Sie landen woanders - und nun wollen sie ihre Familie ausfindig machen. Es gibt aber auch verlorene Kinder."
Wie im Fall des Jungen Sascha: Am 10. März mussten der vierjährige Aleksander S., gerufen Sascha, und seine Großmutter Zoja aus dem Dorf Sucholutschtschja am Dnjepr nördlich von Kiew fliehen. Den Angaben zufolge beschlossen sie, den Fluss in Begleitung einiger anderer Personen per Boot zu überqueren. Das Boot kenterte auf der Flucht - und wurde später mit der Leiche der Großmutter entdeckt.
Von Sascha fehlte nach dem Unglück zunächst jede Spur. Ermittler suchten wochenlang nach ihm. Seit dem 5. April ist bekannt: Die Leiche des kleinen Jungen wurde gefunden.
Polizei und Rotes Kreuz helfen bei der Suche
Oft sind es polnische Helfer oder Gastgeber, die als erstes die getrennten Familien zu finden versuchen. Łukasz hilft privat bei der Suche nach der Tochter einer geflüchteten Ukrainerin. Das Mädchen namens Liana besuchte eine Schule mit Internat in Kiew. Auf der Flucht hat die Mutter ihr Telefon verloren - und damit auch den Kontakt zur Tochter. "Wir haben uns viel Mühe gegeben, Liana zu finden", sagt Łukasz in einem Radiointerview. "Die ersten Schritte macht man im Internet. Oft melden sich die vermissten Menschen selbst", betont er.
Auch Saschas Mutter hatte in sozialen Medien Fotos des Jungen veröffentlicht - in der Hoffnung, dass diese bei der Suche nach dem Kleinkind helfen. Das Polnische Rote Kreuz warnt allerdings: "Seien wir vorsichtig mit dem, was wir im Netz veröffentlichen", sagt Katarzyna Kubicius vom Informations- und Suchbüro der Hilfsorganisation. "Man soll keine Kinderfotos leichtsinnig in sozialen Medien veröffentlichen. Dies könnte das Kind, welches seine Mutter sucht, einer Missbrauchsgefahr aussetzen."
Eine Familie liegt sich in den Armen, nachdem sie die Grenze nach Kroscienko in Polen überquert hat. Für viele andere Familien ging die Flucht nicht glücklich aus.
Nicht nur Kinder sind in Gefahr: Auch Frauen werden oft zum Ziel von Menschenhändlern. Im Schockzustand, verwirrt, ohne Familie und Freunde, auf der Flucht im fremden Land werden sie zum leichten Ziel. Um sie zu schützen und zu warnen, verteilt die polnische Polizei bereits an der Grenze Flugblätter mit Infos und Tipps, worauf sie achten sollten, um sich zu schützen.
Beginn einer riesigen Suchwelle in Polen?
Ukrainer, die Hilfe bei der Suche nach ihren Angehörigen benötigen, sollten als erstes die Polizei um Hilfe bitten. "Wenn das fehlschlägt, können wir auch bei der Suche helfen", sagt Kubicius vom Roten Kreuz. "Wir können in Polen, aber auch in anderen Ländern suchen." Denn für einige flüchtende Ukrainer sei Polen nur ein Durchgangsland: "Ein Teil der Familie ist manchmal in Polen und ein Teil in anderen Ländern. Wir versuchen allen zu helfen, damit jeder bei seiner Familie ist", versichert sie.
Damit das Polnische Rote Kreuz bei der Suche nach Vermissten helfen kann, muss ein Familienmitglied einen formellen Antrag in Begleitung eines Vertreters des Polnischen Roten Kreuzes ausfüllen. Bis Ende März wurden an das PRK 30 Fragen nach Vermissten und sechs Suchaufträge gestellt. Katarzyna Kubicius fürchtet, dass das erst der Beginn einer riesigen Suchwelle ist: "Wenn fünf Millionen Menschen auf die Flucht gehen, werden Tausende vermisst und auch gesucht", sagt sie. Das Polnische Rote Kreuz schätzt, dass selbst nach dem Kriegsende etwa zwei Prozent aller ukrainischen Kinder gesucht werden.
Nicht alle Suchen werden ein gutes Ende finden - so wie im Fall von Sascha. Doch viele Angehörige von Vermissten geben die Hoffnung niemals auf: Noch heute wird nach Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg gesucht - fast 80 Jahre nach Kriegsende.