Karl Nehammer Pflichtbewusst, loyal, kompromissfähig
Nach 1.126 Tagen hat Nehammer selbst den Schlussstrich gezogen. Er galt als ein Mann, der auf Ausgleich bedacht war, kompromissfähig und pragmatisch. Ihm ging es um Inhalte und um gemeinsame Ziele.
"Redlichkeit ist in der Politik nicht sexy", sagt Karl Nehammer bedauernd zum angekündigten Abschied. Er ist aber redlich genug, dazuzusagen: Diese realpolitische Erkenntnis stammt nicht von ihm selbst, sondern von einem seiner Berater. Mit bestem Dank ans Team. Danke sagt Nehammer vor allem für die "Ehre", Bundeskanzler der Republik Österreich gewesen sein zu dürfen.
Im September 2024 hatte die ÖVP das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten erreicht, minus elf Prozent, ein Erdrutsch auf 26 Prozent. Die ÖVP war nur noch zweitstärkste Fraktion hinter der in Teilen rechtsextremen FPÖ.
Seitdem war Nehammer nur noch geschäftsführend im Kanzleramt - allerdings im Auftrag des österreichischen Bundespräsidenten, der ihm, Karl dem Redlichen, den Auftrag zur Regierungsbildung gab - und ganz bewusst nicht dem eigentlichen Wahlsieger Herbert Kickl, dem Frontmann der FPÖ.
Nehammer, der Parteichef der einst so starken konservativen österreichischen Volkspartei ÖVP – und dann auch noch als ÖVP-Bundeskanzler: Das hat ihm lange niemand zugetraut, vor allem nicht in der Ära des ÖVP-Strahlemanns Sebastian Kurz. Aber nach dessen tiefem Fall war Nehammer schnell der einzige, auf den sich die einflussreichen ÖVP-Landeshauptleute, also die Ministerpräsidenten der ÖVP-regierten Bundesländer, einigen konnten.
Nehammer sollte es machen, der Pflichtbewusste, ein loyaler Parteisoldat, Offizier der Reserve, einer, der durchhält, sich notfalls durchbeißt. Einer, der sich in die Pflicht nehmen ließ, als Trümmermann der ÖVP nach Kurz, weil kein anderer sein warmes Plätzchen als Landeshauptmann verlassen wollte. Vor allem die einflussreiche einzige ÖVP-Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, Landesmutter in Niederösterreich, schob mit an.
Am Anfang still in der dritten Reihe
Niederösterreich, das größte Bundesland der Alpenrepublik, ist auch die politische Heimat Nehammers- eine stabile Basis für eine ÖVP-Parteikarriere. Nehammer begann eher still in der dritten Reihe: als Chef der niederösterreichischen ÖVP-Parteiakademie, beim ÖVP-Arbeitnehmerbund als Generalsekretär und Landeschef.
Erst 2017 wurde er als Abgeordneter in den Nationalrat gewählt, Österreichs Parlament. Nehammers Karrierestart als Politiker. Er war ÖVP-Generalsekretär bei Kurz, gehörte aber nie zu dessen engerem Vertrautenkreis, der "Buberlpartie", wie viele damals spotteten.
"Nicht mit Kickl"
Nachdem der Ibiza-Skandal die FPÖ aus der Regierung Kurz und den FPÖ-Scharfmacher Herbert Kickl aus dem Innenminister-Amt gespült hatte, wurde Nehammer Innenminister, in der zweiten Regierung Kurz. Schon damals musste er die Trümmer abräumen, die Innenminister Kickl im Amt hinterlassen hatte. Nehammers redliche Abneigung gegen den FPÖ-Populisten stammt auch aus dieser Zeit.
Auch damit hat Nehammer sein vielleicht wichtigstes, vor allem aber für ihn folgenreichstes Wahlversprechen begründet: "Nicht mit Kickl", keine Koalition mit dem radikalen Populisten, der nur stark sei im Formulieren von Problemen, aber nicht im Lösen der Probleme, so Nehammer.
Der grundkonservative Nehammer regierte mit den Grünen. Ein Glücksfall, hieß es anfangs. Nehammer, der auf Ausgleich Bedachte, Kompromissfähige, der Pragmatische, dem es um Inhalte gehe und die gemeinsamen Ziele – so fing das an. Rhetorisch beim Bundesheer geschult, also: holprig. Auf jeden Fall der Gegenentwurf zu Kurz – damals war das ein Kompliment auch aus der eigenen Partei.
Migration: das populärste Wahlkampfthema
Aber in vielen Krisenmonaten schliff sich das ab. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die Teuerung - ÖVP und Grüne hatten sich am Ende herzlich entfremdet. Zunehmend bedrohlich für die ÖVP war vor allem der während der Pandemie beschleunigte Aufstieg des Corona-Leugners Kickl und seiner FPÖ.
Migration wurde zum populärsten Wahlkampfthema in Österreich. Auch da schien Nehammer nicht der Falsche am Ballhausplatz. Harte Kante gegen illegale Migration, mehr österreichische Leitkultur, das konnte der ehemalige Innenminister zunehmend scharf formulieren. Die Partei applaudierte ihrem Spitzenkandidaten frenetisch, beim Wahlkampfauftakt Anfang vergangenen Jahres.
Jetzt sind andere dran
Es gab nur keine spürbaren Zuwächse in Prozentpunkten bei der Sonntagsfrage - und am Ende keinen Wahlsieg. Zweifel, ob er der Richtige sei, wurden vereinzelt gestreut. Manchmal getrieben von Partei-Nostalgie in Erinnerung an die ÖVP-Höhenflüge mit Kurz. Aber: Keine Gefahr für Nehammer, sagten die Politberater in Wien: "Den Job will grade keiner."
Jetzt müssen doch andere ran. Nach 1126 Tagen ist die Zeit Nehammers vorbei. Aber er ist es selbst, der den Schlussstrich zieht. Und dabei seinen Vater zitiert, der dem jungen Karl immer gesagt habe: "Nimm Dich selbst nicht so wichtig."
Warum hat Nehammer hingeworfen?
Die Frage der nächsten Tage bleibt: Warum hat er hingeworfen? Nehammer, der Pflichtbewusste, der immer "Bollwerk gegen die Radikalen" sein wollte, wie er auch ganz zum Schluss nochmal betont. Nur, welche Radikale meint er? Die in anderen Parteien, oder die in der eigenen Partei, die sich doch eine Koalition mit der Kickl-FPÖ vorstellen wollen?