Protestkünstlerin Osipowa "Petersburgs Gewissen" gibt nicht auf
Mit selbstgemalten Plakaten geht die Sankt Petersburger Künstlerin Elena Osipowa seit Jahrzehnten zu Protesten auf die Straße. Jetzt demonstriert sie gegen Russlands Vorgehen in der Ukraine - und sagt: "Ich habe nichts zu verlieren".
Durch die Wohnung von Elena Osipowa führt nur ein schmaler Pfad. Die Wände des schon lange nicht mehr renovierten Altbaus sind vollgestellt mit Kunstwerken, Plakaten und Pappen, die darauf warten, von der 76-Jährigen bemalt zu werden. "Glaube nicht an die Gerechtigkeit des Krieges" steht auf einem Plakat aus der Zeit der Tschetschenien-Kriege; es ist beinahe 20 Jahre alt - so lange schon geht die ehemalige Kunst-Pädagogin mit ihren selbstgestalteten Protest-Plakaten auf die Straße.
Viele verwendet sie mehrfach - auch das Plakat, mit dem sie als erstes gegen die sogenannte "militärische Spezialoperation" in der Ukraine protestierte: "Hier steht es drauf: 24. Februar. Das war der erste Tag. Am Abend ging ich damit zum Newskij Prospekt, zum Denkmal Katharina der Großen", erzählt sie. "Ich habe es schon viel früher angefertigt. Mit einem Gedicht, das eigentlich von Deutschland handelt. Ich habe es an Russland angepasst. Und das Bild zeigt eine Mumie - die Mumie des Krieges."
"Glaube nicht an die Gerechtigkeit des Krieges!" - ein Plakat, mit dem Osipowa gegen den Tschetschenienkrieg demonstrierte.
Eine fahle Menschengestalt aus Pappe mit zwei Krähen auf den Schultern. Fast so groß wie Elena Osipowa selbst. Wenn sie vom Beginn der russischen Militäraktion in der Ukraine spricht, wirkt sie noch immer fassungslos: "Einige haben sich am Anfang sogar gefreut. Das ist Wahnsinn. Einfach gefreut, wie groß wir doch sind! Ich konnte und wollte aber nicht glauben, dass alle das unterstützen", sagt sie. "Also bin ich rausgegangen - und habe begriffen, dass es eben nicht so ist. Junge Menschen kamen auf mich zugelaufen, in großen Gruppen, und riefen: 'Nein zum Krieg!'"
Schon oft festgenommen worden
Doch die Proteste hielten nicht lange an. Die russische Polizei griff durch. Tausende wurden während der offiziell nicht genehmigten Demonstrationen festgenommen - auch Elena Osipowa. Das Bild, wie die zierliche alte Frau mit zwei riesigen Plakaten in den Händen von Polizisten abgeführt wird, sorgte für Aufsehen.
Abgeschreckt hat es die Rentnerin nicht - schließlich war es nicht ihr erstes Mal: Früher sei sie häufiger festgenommen worden, sagt Osipowa. "Ich war in fast allen Polizeistationen der Stadt. Jetzt versucht man mich in der Regel nicht festzunehmen, damit sie nicht so viel Ärger mit mir haben. Aber die Jüngeren - die nehmen sie fest."
Deswegen demonstriert die 76-Jährige heute wieder weitestgehend allein. Bekannt ist sie in Sankt Petersburg nicht nur für ihren kreativen Protest, sondern auch wegen ihrer Familiengeschichte. Ihre Großeltern lebten bereits in der Wohnung, in der sich heute ihre Plakate stapeln, als die Nazis die Stadt 872 Tage lang belagerten und versuchten ihre Bewohner auszuhungern: "Die gesamte Familie hat die Blockade hier überlebt - meine Mutter, ihr Bruder. In der Nähe war eine Brotfabrik, deswegen gab es viele Bombardements. Aber hier ist zum Glück keine Bombe explodiert."
Osipowa ist schon oft festgenommen worden - ein Foto von einer Festnahme steht in ihrer Wohnung.
"Ich riskiere viel weniger als andere"
Inzwischen ist Osipowa weit mehr als nur eine lokale Berühmtheit. Dass man sie wegen ihrer unermüdlichen Protest-Aktionen das "Gewissen von Petersburg" nennt, gefällt ihr aber nicht so richtig: "Ich sage es mal so: ein Gewissen, um die Gewissenslosigkeit zu verdecken", sagt sie lachend.
Schlimmer sei aber noch das Schweigen und die Gleichgültigkeit in weiten Teilen der Gesellschaft. Dass es nun in der Ukraine überhaupt so weit kommen konnte, sagt Osipowa, hätten die Russinnen und Russen mit zu verantworten: "Sie haben es zugelassen. 2014 hat es begonnen. Viele meiner Plakate sind von damals ... - ich gehe noch immer mit ihnen demonstrieren. Es war alles schon damals klar."
Neben Protestplakaten malt Elena Osipowa auch Porträts - in ihrer Wohnung in St. Petersburg.
Es seien nun vor allem die jungen Menschen in Russland, sagt Osipowa, für die sie weiter auf die Straße gehe, denn die brauchten und suchten Unterstützung.
Das Land zu verlassen, so wie es zurzeit viele kritische Köpfe tun, käme ihr nicht in den Sinn. Russland sei wie eine kranke Mutter, sagt sie. Die lasse man schließlich auch nicht allein, sondern kümmere sich um sie: "Und wer sonst bleibt hier und sagt etwas? So lange meine Gesundheit es zulässt, gehe ich auf jeden Fall raus. Aber ich riskiere viel weniger als andere. Ich habe nichts zu verlieren."