Prozessauftakt gegen acht Erwachsene "Es geht darum, Samuels Würde wiederherzustellen"
Vor mehr als vier Jahren wurde der Geschichtslehrer Paty in Frankreich von einem Islamisten enthauptet. Heute beginnt der Prozess gegen acht Personen, die an der Hetze gegen Paty beteiligt gewesen sein sollen.
Für die Familie von Samuel Paty sei dieser Prozess eine Erleichterung, sagt Virginie Leroy - eine wichtige Etappe auf der Suche nach Antworten. Leroy ist Anwältin und vertritt Patys Eltern sowie Gaëlle, einer seiner Schwestern. "Ihnen geht es in erster Linie darum, Samuels Würde wiederherzustellen. Ihn richtig und gerecht darzustellen", sagte Leroy im Interview mit dem ARD-Studio Paris vor dem Prozess.
Die Kettenreaktion verstehen, die zum Attentat geführt hat
Samuel Paty hatte in einer Unterrichtsstunde über Meinungsfreiheit Mohamed-Karikaturen aus der Satirezeitschrift Carlie Hebdo gezeigt. Die Schüler sollten an diesem Beispiel das Dilemma diskutieren: Être ou ne pas être Charlie - Charlie sein oder nicht? Also: solche Karikaturen veröffentlichen oder nicht? Um religiöse Gefühle nicht zu verletzen, hatte Paty den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben, den Raum zu verlassen oder wegzuschauen.
Eine Schülerin hatte daraufhin behauptet, Paty habe Muslime beleidigt und diskriminiert - sie war in der fraglichen Stunde aber gar nicht da. Diese Lüge löste eine Welle von Bedrohungen, Schuldzuweisungen und falschen Beschwichtigungen aus, an deren Ende das Attentat auf Samuel Paty stand.
Die Familie wolle Gerechtigkeit für Samuel, betont Anwältin Leroy: "Sie will den Angeklagten ins Gesicht sehen und Antworten erhalten - verstehen, was passiert ist. Und auch das Strafmaß hat für sie eine große Bedeutung. Denn aus ihrer Sicht sind die Mechanismen innerhalb dieser Kettenreaktion sehr wichtig, die zu Samuels Tod geführt hat."
Die Angeklagten: sieben Männer und eine Frau
Vor Gericht stehen ab heute sieben Männer und eine Frau - darunter Brahim Chnina und der islamistische Aktivist Abdelhakim Sefrioui. Chnina ist der Vater der Schülerin, die die Lüge über Paty in die Welt gesetzt hatte. Ihm und Sefrioui wird vorgeworfen, die falschen Behauptungen im Netz verbreitet und somit die Hetzkampagne gegen den Lehrer maßgeblich vorangetrieben zu haben. Beiden drohen bis zu 30 Jahre Gefängnis.
Zwei weitere Männer stehen vor Gericht, weil sie dem Attentäter geholfen haben sollen, die Tatwaffe zu beschaffen. Der Attentäter selbst, Abdoullakh Anzorov, war kurz nach der Tat von der Polizei getötet worden.
Ende vergangenen Jahres standen bereits sechs Jugendliche vor Gericht. Sie wurden zu Freiheitsstrafen zwischen 14 Monaten auf Bewährung und sechs Monaten mit Fußfessel verurteilt.
Für Leroy war es ein eher enttäuschendes Urteil: "Damals standen wir Jugendlichen gegenüber, die sich nicht wirklich weiterentwickelt hatten. Ihre Sicht auf das, was passiert ist und warum sie vor Gericht standen, war sehr kalt und nicht besonders reflektiert. Sie haben nur sehr wenige Erklärungen dazu geliefert, was sie zu ihren Taten motiviert hat."
Frage nach möglichen Fehlern im System
Die Spirale des Hasses aufzudröseln, ist laut der Anwältin das eine. Für die Familie gehe es aber auch um mögliche Versäumnisse der Behörden. Leroy hatte deshalb 2022 eine weitere andere Klage eingereicht: nämlich gegen das Bildungs- und das Innenministerium.
Diese Klage habe mehrere Gründe, so Leroy: "Erstens soll sie helfen zu verstehen, welche Warnungen es gab, an wen diese gingen - und warum sie nicht funktioniert haben. Es gab Anzeigen bei der Polizei, Warnungen an höhere Ebenen im Bildungsministerium. Auch die Geheimdienste waren mit dem Problem befasst und sozusagen im Standby."
Außerdem solle sie dazu beitragen, mögliche Dysfunktionalitäten zu korrigieren, so Leroy.
Patys Schwester beklagt fehlende Solidarität mancher Kollegen
Sie erwarte Entschlossenheit von der Justiz, sagt Patys Schwester Mikaëlle. Und sie erwartet noch etwas von dem Prozess: Er soll deutlich machen, dass ihr Bruder das Richtige getan habe.
Es habe nationale Gedenkfeiern gegeben, die ihn zu einem Helden erhoben hätten, sagt Mikaëlle Paty im Interview mit dem ARD-Studio Paris: "Aber im Grunde halten manche ihn immer noch ein bisschen für mitverantwortlich für das, was passiert ist. Das merkt man an diesem 'Ja, aber': Ja, was ihm passiert ist, ist schrecklich - aber hätte er diese Karikaturen wirklich zeigen sollen?" Vor wenigen Wochen hat Mikaëlle Paty ein Buch veröffentlicht. Darin wirft sie den Schuldbehörden und auch manchen von Patys Kollegen fehlende Solidarität vor.
Aus Angst vor Diskriminierungsvorwürfen hätten sie seine Unterrichtsmethoden kritisiert, anstatt ihn gegen die Hetzkampagne der lokalen Islamisten zu verteidigen - und das Prinzip der Laizität zu wahren, also die strenge Neutralität gegenüber allen Religionen in der Schule: "Was ich mit diesem Buch vor allem zeigen will, ist dass wir über Jahre hinweg Entscheidungen getroffen und so eine Art System geschaffen haben, in dem wir uns gegenüber islamistischen Kampagnen beugen, klein beigeben und akzeptieren", so Mikaëlle Paty.
Für sie steht der Mord am Lehrer Dominique Bernard in Arras vor gut einem Jahr in einer Linie mit dem Tod ihres Bruders. Sie sei nicht politisch, sagt Mikaëlle Paty, aber: Ihr Buch sei auch eine Aufforderung an die Politik, Lehrkräfte zu schützen. Besser als ihren Bruder.