Putins angeblicher Wahlsieg "Inszenierung einer Alternativlosigkeit"
Nach der inszenierten Präsidentenwahl brauche Putin derzeit weder Opposition noch konkurrierende Eliten zu fürchten, erklärt Expertin Sasse. Auch deshalb habe er erstmals Kremlkritiker Nawalny namentlich genannt.
tagesschau24: Zum ersten Mal hat Putin den Namen des in Gefangenschaft gestorbenen Oppositionellen Alexej Nawalny ausgesprochen - in seiner Siegesrede nach der inszenierten Präsidentenwahl. Wie bemerkenswert finden Sie das?
Gwendolyn Sasse: Es bleibt bemerkenswert, weil er ihn eben vorher nie ausgesprochen hat und ihn bislang immer nur "den Blogger" genannt hat. Aber drückt sich darin vor allem aus, dass er von Nawalny ausgehend keine Gefahr mehr sieht.
Das Thema ist für ihn eigentlich abgehakt und er hat ja auch nur gesagt, das sei traurig, aber so etwas passiere. Das ist keine große Äußerung, dennoch sah er Grund dazu, sich zu Nawalny zu verhalten, denn es gibt ja auch in Russland einige Bilder davon, wie Menschen Blumen am Grab von Nawalny ablegen.
Die wichtigste Aussage dabei ist aber, dass er sich keine Gefahr von diesem Netzwerk mehr ausmalen kann. Insofern unterstreicht es eigentlich nur, dass es aus Putins Sicht keine Opposition zum jetzigen Zeitpunkt gibt.
"All die Sozialversprechen müssen bezahlt werden"
tagesschau24: Was denken Sie, welche Ziele Putin in seiner neuen Amtszeit verfolgt - abgesehen von Machterhalt und Sieg gegen die Ukraine?
Sasse: Beides sind sehr wichtige Ziele für ihn. Und vieles wird, und das ist auch Putin klar, vom weiteren Kriegsgeschehen abhängen, damit verbunden ist auch seine eigene Position. Der Erhalt des Systems Putin und natürlich auch die Wirtschaft im Land hängt vom Kriegsgeschehen ab.
Er hat die russische Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umgestellt. Im Moment sehen die Zahlen bis auf die Inflation einigermaßen gut aus. Aber es ist fraglich, wie lange das so aufrecht erhalten werden kann, sollte der Krieg noch sehr langen andauern.
Er hat vor der Wahl in seiner Rede zur Lage der Nation viele Sozialversprechen gemacht, die müssen erst mal bezahlt werden. Und: Eine Kriegswirtschaft steht in einem gewissen im Widerspruch zu einer Sozialpolitik, die er braucht, um auch seine Zustimmungswerte zu erhalten.
"Keine wirklichen politischen Alternativen"
tagesschau24: Heißt das, es ist gar kein Automatismus, dass er bis an sein Lebensende weiter regiert?
Sasse: Ein Automatismus ist es nicht, aber ich sehe momentan keine wirklichen politischen Alternativen, auch keine Eliten, die ihn direkt ablösen würden. Ich gehe davon aus, dass er jetzt eine sechsjährige Amtszeit antritt.
Aber in autoritären Systemen kann es auch Wendungen geben. Das könnte mit dem Kriegsgeschehen zu tun haben und natürlich auch mit seiner Gesundheit, andere Themen kommen auch mit hinzu - dass plötzlich ein stark aussehender autoritärer Machthaber doch die Macht verliert, zur Seite tritt oder es ihn auf einmal gar nicht mehr gibt. Aber von so einem Punkt sind wir weit entfernt und ich würde auch nicht ausschließen, dass er 2030 ein weiteres Mal zur Wahl antritt.
"Anschein einer Alternative unterdrücken"
tagesschau24: Und was denken Sie, wird er in den kommenden Jahren noch härter gegen seine Kritiker vorgehen?
Sasse: Es ist schon kaum vorstellbar, dass es noch härter geht. Wenn wir überlegen, dass selbst das Wort Krieg schon lange Haftstrafen nach sich ziehen kann. Aber ja, das repressive System wird aufrechterhalten werden und es wird noch weiter anziehen, wo das noch möglich ist.
Es geht darum, jegliche Opposition, überhaupt nur den Anschein einer möglichen politischen Alternative weiter zu unterdrücken. Denn es gibt Unzufriedenheit im Land, sowohl soziale Unzufriedenheit als auch einige Unzufriedenheit mit dem Krieg.
Aber man muss klarstellen, dass das momentan keine Mehrheitsstimmung ist. Doch sobald es irgendeine politische Alternative am Horizont gäbe, könnte sich das kristallisieren - vor allem unter Eliten, das will man verhindern.
"Es müsste eine Dynamik in Gang gesetzt werden"
tagesschau24: Und obwohl Putin jetzt schon 71 Jahre ist und ja auch nicht ewig leben wird oder gesund bleiben wird, bringen sich gar keine Nachfolger in Stellung? Ist da gar nichts zu sehen?
Sasse: Momentan ist es wirklich nicht zu sehen, dass ganz deutlich Namen insbesondere unter den Eliten hervortreten. Das drückt auch aus, dass momentan nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist. Man könnte sich vermutlich auch in Gefahr bringen, wenn man sich jetzt zu deutlich gegenüber Putin positionieren würde.
Aber es kann eine Dynamik in Gang kommen und dann werden vielleicht für uns heute gar nicht ersichtliche Namen in den Vordergrund treten. Insbesondere könnten das auch regionale Dynamiken sein, die eventuell politische Eliten aus der Provinz auf einmal auf eine andere Ebene heben. Aber momentan sehen wir wirklich diese Art von Machtspielen oder Machtkämpfen nicht, zumindest nicht offen.
tagesschau24: Putin gilt ja als Demokratieverächter. Wenn das so ist, Frau Sasse, warum lässt er dann überhaupt noch Wahlen abhalten, die zumindest optisch ja den westlichen Demokratien ähneln?
Sasse: Viele autoritäre Systeme halten Wahlen ab, sie haben wichtige Funktionen für ein System wie das in Russland. Sie mobilisieren die Gesellschaft. Es ging es vor allem darum zu zeigen, dass man - insbesondere über die Wahlbeteiligung (mögen auch die Zahlen im Ergebnis manipuliert sein) - den Eindruck vermittelt, die Gesellschaft mobilisieren kann und dass diese hinter dem System steht.
Das ist sehr wichtig für den politischen Spielraum, den sich Putin nehmen will für die Legitimation seines Systems. Es geht um diese Inszenierung einer Alternativlosigkeit. Und die ist gelungen.
Das Gespräch führte Gerrit Derkowski für tagesschau24. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung leicht angepasst.