Menschen in Odessa Die "beste Stadt der Welt" doch verlassen?
Am Wochenende ist Odessa wieder Ziel eines russischen Raketenangriffs geworden. Viele Menschen stehen vor der schweren Entscheidung, ob sie ihre geliebte Heimat doch noch verlassen sollen.
Die Ukraine ist wie eine zerrissene Seele, wie ein zerrissenes Herz. Das aber noch am Leben ist. Und hoffentlich am Leben bleibt.
Karina Beigelzimer, Lehrerin und freie Journalistin, sitzt in einem Café an der Hafenpromenade von Odessa. Es weht eine kräftige Brise, die Sonnenschirme des Cafés klappern im Wind.
Bei ihr zu Hause stehe ein kleiner Koffer, erzählt sie, den habe sie am 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, einfach gepackt: "Aber ich kann das nicht." Sie überlege sich oft, ob sie gehen oder bleibe solle: "Diese Feinde, die unser Land erobern wollen, sollen gehen - und nicht ich!" Hier wurde sie vor 47 Jahren geboren, hier hat sie ihr Leben verbracht, hier wolle sie bleiben.
Was könnte ich in meinen Koffer packen? Meine Freunde, meine Heimatstadt? Das kann ich nicht in meinen kleinen Koffer packen - das passt doch alles nicht rein! Ich konnte diese Entscheidung nicht treffen.
Aber auspacken wolle sie ihren Koffer auch nicht: Wer weiß, was noch kommt. Sie liebe ihre Stadt - diese Kombination aus Leichtigkeit und Tiefe, die sich auch in den Menschen widerspiegelt.
Ungewisse Zukunft
Odessa ist für viele Ukrainer ein Urlaubsort. Eine Stadt, die Lebensfreude atmet. Doch die Leichtigkeit sei weg, sagt Karina. Zwar sind die Cafés voll und die Menschen scheinen sorglos. Aber das täusche: Jeder dritte in Odessa sei jetzt arbeitslos, sagt sie. Und die Zukunft sei ungewiss. Die Front sei zwar weit weg, aber …
… trotzdem fühle ich mich nicht sicher, weil wir fast jeden Tag diese Raketenangriffe erleben. Ich glaube, niemand, der in der Ukraine ist, fühlt sich hundertprozentig sicher. Die Sicherheit hat Russland uns geklaut. Wie unser Leben!
Die Millionenstadt Odessa wird auch "Perle am Schwarzen Meer" genannt.
Unterricht geht nur online
Auch ihr Leben ist nicht mehr dasselbe. Unterrichten kann sie nur noch online. Nicht mehr wegen Corona, sondern aus Sicherheitsgründen: In der Schule gibt es keinen Luftschutzraum. Aber die meisten der rund 1000 Schülerinnen und Schüler sind sowieso weg, nur etwa 300 sind geblieben. Einer von ihnen ist der 16-jährige Oleksandr:
Ich will bleiben, weil Odessa für mich die beste Stadt der Welt ist. Meine Familie ist hier, meine Freunde kommen aus Odessa. Ich will diese Stadt auf keinen Fall verlassen.
Nach den Ferien wolle er anfangen, hier in Odessa zu studieren.
Zerstörtes Wohnhaus in Odessa
Die beiden sehen sich heute an der Strandpromenade zum ersten Mal seit Monaten wieder. Karina ist froh, dass er bleibt:
Es freut mich, so fühle ich mich nicht so einsam. Obwohl ich, ehrlich gesagt, am Anfang auch versucht habe, ihn zu überzeugen, nach Deutschland zu fahren. Aber jetzt bin ich trotzdem sehr, sehr froh, dass er hier ist!
Rückkehr nach Deutschland
Oliver Schütz dagegen hat sich entschieden zu gehen. Sieben Jahre lang lebte er hier in Odessa, mit seiner ukrainischen Frau und seinem Sohn - auch dieser ein Schüler von Karina. Sein Sohn und auch seine Tochter sind schon lange in Deutschland.
Die haben sich natürlich auch Sorgen um uns gemacht. Denen ist es dann auch lieber, wenn wir wieder in der Nähe sind. Also gehen wir dann auch wieder zurück nach Deutschland. Die rufen jeden Tag an, sagen: Kommt schnell!
Schütz zeigt seinen Autoanhänger, auf den er seinen Hausrat geschnallt hat. Auch ihm ist die Entscheidung schwergefallen. Odessa sei ein kleines Paradies, sagt er. Zum Strand seien es von seinem Haus nur 300 Meter.
Er hoffe, dass er bald wieder hierhin zurückkehre. Denn ihm sei klar: "Ganz Odessa verlassen - das geht nicht. Wenn man mal hier war, für längere Zeit - nein, das geht nicht!"