Prozess gegen Co-Chef von Memorial "Es gibt Dinge, die musst du einfach tun"
Der Menschenrechtsaktivist Orlow gehört zu den Russen, die weiter öffentlich das System und den Krieg in der Ukraine kritisieren - wissend, dass er damit seine Freiheit riskiert. Nun muss er sich vor Gericht verantworten.
Er sei vieles, lächelt Oleg Orlow auf seine bescheidene Art. Aber sicher kein Held. Natürlich habe er auch Angst, sagt der Co-Chef von Memorial, und er wolle auf keinen Fall im Gefängnis landen. "Aber es gibt Dinge, die musst du einfach tun. Das ist Schicksal."
Der 70-Jährige setzt sich seit Jahrzehnten für Menschenrechte ein, für die Aufarbeitung politischer Gewaltverbrechen und staatlicher Willkür. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Stalin-Zeit, sondern auch um das Hier und Jetzt. Russland sei kein autoritärer Staat mehr, sondern ein totalitärer.
Jeder, der bei uns Fernsehen guckt, kann sehen, dass alles an die Stalin-Zeit erinnert. Andersdenkende gibt es im Prinzip nicht mehr. Auch nicht die Freiheiten, die in der Verfassung verankert sind.
Weitermachen, aber anders
Menschenrechtsorganisationen wie Memorial, die Moskauer Helsinki-Gruppe oder das Sacharow-Zentrum wurden zwangsaufgelöst und verboten. Was aber nicht heißt, dass sie nicht trotzdem - auf anderen Wegen - weitermachen.
Nach wie vor steht Orlow demonstrativ vor Gerichtsgebäuden, wenn wieder einmal Oppositionellen, Kreml-Kritikern und Kriegsgegnern der Prozess gemacht wird, und prangert öffentlich Justizwillkür an. Die Machthabenden, sagt er unverblümt, hätten jede Scham verloren: "Es gibt kein Gesetz, kein Recht mehr. Nur Willkür. Nur ein: Wir machen, was wir wollen."
Ein Artikel und seine Folgen
Das System reagiert auf seine Weise: mit Ermittlungen gegen Memorial-Mitarbeiter wegen angeblicher Rehabilitierung des Nationalsozialismus, mit Hausdurchsuchungen, der Beschlagnahme von Computern und Datenträgern und, im Fall von Orlow, nun auch mit einem Strafprozess - wegen wiederholter Diskreditierung der russischen Streitkräfte.
Er habe einen Artikel geschrieben, sagt Orlow, und er bereue "keinen einzigen Satz". Im Gegenteil - er meine, er sei ihm "richtig gut gelungen" und er sei bis heute mit ihm "sehr zufrieden", stellt Orlow lächelnd fest.
Doch Orlow weiß, wie ernst die Lage ist. In dem Artikel, der im November veröffentlicht worden ist, geht er mit dem System Putins hart ins Gericht - und mit dem "blutigen Krieg, den das Putin-Regime in der Ukraine entfesselt hat".
Den Faden weiterspinnen
Es ist keine verklausulierte Kritik, sondern eine Analyse, die auf den Grundsätzen basiert, denen sich Memorial verschrieben hat: "Wir verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart. Wir beschäftigen uns mit der Geschichte von Repression. Und spinnen den Faden bis heute. Wir erlauben uns eine unabhängige Beurteilung der Geschichte."
Eine Beurteilung, die ebenso unerwünscht ist wie die bisherige Arbeit der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation.
Memorials Beitrag für die Gesellschaft
Memorial hat über Jahrzehnte ein einzigartiges Archiv zusammengetragen. Es ist eine einmalige Sammlung von Dokumenten, Briefen, Berichten und Exponaten, die tiefen Einblick in die Geschichte politischer Gewaltherrschaft geben.
Ginge das Archiv verloren, wäre das ein massiver Schlag. Es wäre "einfach schrecklich", ist Orlow überzeugt - "für das künftige Russland, für die Geschichtswissenschaft und für das gesellschaftliche Selbstverständnis."
Passivität, die ihre Gründe hat
Dass eine große Mehrheit der russischen Gesellschaft an all dem öffentlich kaum Anstoß nimmt, passiv zusehe, wie zivilgesellschaftliche Strukturen zerstört würden, das sei traurig, sagt Orlow. Aber es sei aus der Geschichte heraus erklärbar.
Eine Mehrheit der Bevölkerung sei weiterhin nicht bereit, für die eigenen Rechte zu kämpfen, denn sie verstehe nicht, was diese Rechte bedeuten: "Sie wissen nicht, wie sie ihre eigenen Rechte verteidigen sollen. Sie haben nur gelernt, sich mit ihren Bitten an ihre Vorgesetzten zu wenden."
Drakonische Strafen und ihre Folgen
Und doch gebe es auch die anderen: diejenigen, die zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine auf die Straße gegangen seien. Die auch heute noch protestierten, im Rahmen des Möglichen.
Wenn man in Europa frage, warum in Russland niemand auf die Straße geht, laute seine Antwort: "Weil es nicht dasselbe ist, ob man in Deutschland oder in Russland auf die Straße geht. Hier wird man nicht für einen Stein- oder einen Flaschenwurf auf einen Polizisten in ein furchtbares Gefängnis gesteckt. Sondern für ein leeres Blatt Papier. Es gibt schreckliche Gesetze, die dafür sorgen, dass man für wenige Worte für lange, lange Zeit sitzt."
Sollte er selbst im jetzt anstehenden Prozess verurteilt werden, drohen ihm im schlimmsten Fall mehrere Jahre Haft.
Solange es noch geht, will der 70-Jährige weitermachen. Für eine Ausreise, die ihm viele seit Wochen nahe legen, sei es eh zu spät, sagt er ohne großes Bedauern. Die Justiz hat ihn längst mit einer Ausreisesperre belegt.