Menschen gehen durch eine Fußgängerzone in Uppsala
Interview

Schwedens Chefepidemiologe "Balance zwischen Schaden und Nutzen"

Stand: 30.03.2021 10:26 Uhr

Schweden geht in der Pandemiebekämpfung eigene Wege. Das Leben habe sich dennoch drastisch geändert, sagt Chefepidemiologe Tegnell. Im ARD-Interview erklärt er, warum er geöffnete Schulen für vertretbar hält.

ARD: Warum hat sich Schweden während der gesamten Pandemie gegen einen Lockdown entschieden?

Anders Tegnell: Wir haben das gesellschaftliche Leben in Schweden in sehr großen Teilen heruntergefahren. Die Menschen haben ihr Leben stark verändert. Das belegen alle unsere Studien. Wir haben Auflagen für Restaurants, für große Kaufhäuser, für Museen und ähnliche Einrichtungen. Wir haben uns dafür entschieden, uns auf die Stellen zu fokussieren, bei denen wir aus eigener Erfahrung oder aus den Erfahrungen anderer Länder wissen, dass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Ein kompletter Lockdown dagegen hätte sehr große Auswirkungen.

Wir haben im Frühling und Herbst gesehen, dass wir auch Effekte erzielen, wenn wir andere Maßnahmen ergreifen. Mitte April sanken die Infektionszahlen und auch wieder vor Weihnachten. Die Infektionsausbereitung in Schweden nahm erst sehr viel später zu als in anderen Ländern und ging dann kurz vor Weihnachten wieder runter. Wir haben also Ziele auch auf diese Art erreicht.

Anders Tegnell
Anders Tegnell
Anders Tegnell ist seit 2013 der Staatsepidemiologe der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit.

ARD: In Schweden hat man viel auf die Eigenverantwortung der Bürger gesetzt. Aber nicht alle Menschen folgen den Empfehlungen. Wie reagieren Sie darauf?

Tegnell: Wir setzen weiterhin auf gute Kommunikation und erinnern an die Regeln und Empfehlungen. Diejenigen, die für Betriebe und Geschäfte Verantwortung tragen, sind besonders wichtig. Sie müssen es den Menschen ermöglichen, die Abstände einhalten zu können.

ARD: Die Menschen in Schweden haben großes Vertrauen in Behörden. Die Gesundheitsbehörde steht daher in der Pandemie sehr im Fokus - mehr als die Regierung. Wie teilen sie sich bei der Corona-Bekämpfung auf?

Tegnell: Wir haben eine klare Aufteilung in Schweden, welche Entscheidungen eine Behörde treffen kann und welche Entscheidungen die Regierung und der Reichstag treffen. Das ist seit vielen hundert Jahren in Schweden so und hat sich durch die Pandemie auch nicht verändert. Wir haben einen engen Austausch und entscheiden gemeinsam, welche Maßnahmen in welcher Situation sinnvoll sind. Wir besprechen uns mehrmals täglich.

"Schulen nicht gefährlicher als andere Orte"

ARD: Im Ausland besteht manchmal der Eindruck, dass das Leben in Schweden ganz normal weitergeht. Können Sie das nachvollziehen?

Tegnell: Nein, es ist ganz offensichtlich, dass es nicht normal war oder ist. Wir wissen, dass große Teile der schwedischen Bevölkerung durchgehend zu Hause arbeiten. Das haben sie vorher nicht getan. Wir wissen, dass das Reisen in Schweden drastisch weniger geworden ist verglichen mit den Jahren zuvor. Wir wissen, dass man deutlich weniger in Geschäften einkauft. Es gibt sehr viele verschiedene Beispiele, die zeigen, dass die schwedische Bevölkerung anders lebt als zuvor.

ARD: Schwedens Weg wird oft als Sonderweg beschrieben. Was halten Sie von dem Begriff?

Tegnell: Das ist in weiten Teilen ein Mythos. Wir haben unser Verhalten hier in der Bevölkerung auf eine sehr radikale Art verändert. Wir haben sehr viel weniger physischen Kontakt miteinander, als wir es früher hatten. Das lässt sich auf viele Arten belegen.

ARD: In Schweden blieben Grundschulen und Unterstufen während der gesamten Pandemie geöffnet. Sie haben das damit begründet, dass Kinder nicht so schwer am Coronavirus erkranken würden und sie nicht so ansteckend seien. Trifft das immer noch auf die Mutationen des Virus zu?

Tegnell: Es ist die ganze Zeit ein Balanceakt zwischen dem Schaden, den man anrichtet und dem Nutzen, den man hat. Was Kinder in Schulen betrifft, ist unsere Bewertung die ganze Zeit gewesen, dass die Schulen zu schließen zu sehr viel größeren Schäden führt. Kinder werden offensichtlich nicht so oft wie Erwachsene infiziert. Wir haben einige Studien gemacht, die zeigen, dass sie sich etwa halb so oft infizieren wie Erwachsene. Es gibt auch viele Studien, die belegen, dass Kinder Erwachsene viel seltener anstecken als Erwachsene Kinder.

Wir haben uns auch die Berufsgruppe der Lehrer angesehen und herausgefunden, dass diese nicht stärker betroffen ist als andere Berufsgruppen. Wir haben viele Belege dafür, dass die Schulen nicht gefährlicher sind als viele andere Orte. Es ist dahingegen ein sehr wichtiger Ort, damit Kinder auch in Zukunft eine gute Gesundheit und Ausbildung haben.

"Langzeit-Covid schwer zu definieren"

ARD: Stellen offene Schulen also kein größeres Risiko für Kinder dar?

Tegnell: Nein, kein größeres Risiko als zu Hause zu sein. Sie stecken sich auch in anderen Zusammenhängen an. Das macht keinen größeren Unterschied.

ARD: Es gibt in Schweden Berichte über Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion auch bei Kindern. Erhöht die Strategie der offenen Schulen das Risiko, mehr Langzeitfolgen bei Kindern zu haben?

Tegnell: Ich habe dazu keine Studien gesehen. Ich glaube, es ist sehr schwer zu definieren, was Langzeit-Covid ist. Es gibt keine klaren Kriterien, anhand derer man das beurteilen könnte. Wir müssen abwarten und werden sehen, was die kommenden Untersuchungen für Ergebnisse bringen werden.

Was wir aber definitiv wissen, ist, dass man in Schweden als Kind einem deutlich geringeren Risiko ausgesetzt ist, seinen Abschluss nicht zu schaffen, verglichen mit den Ländern, die die Schulen geschlossen haben.

ARD: Wie ist es für Sie persönlich, das Gesicht der schwedischen Corona-Strategie zu sein?

Tegnell: Komisch, das ist nicht normal für einen schwedischen Staatsbeamten. (lächelt) Es hat mein Leben nicht wirklich verändert, bis vielleicht darauf, dass ich jetzt sehr viel Zeit damit verbringe, Interviews zu geben.

Das Gespräch führte Linnea Pirntke, ARD-Studio Stockholm.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 24. November 2020 um 09:10 Uhr in der Sendung "Europa heute".